Langfassung des LTO-Beitrages, Oktober 2010, www.lto.de

Neues zur unendlichen Geschichte des § 522 Abs. 2 ZPO

Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

Vorbemerkung

Kurz nach dem Tag der deutschen Einheit, nämlich am 05.10.2010, fand unter Leitung des Journalisten Wolfgang Ebersberger eine Podiumsdiskussion zu aktuellen Problemen und zum Reformbedarf des § 522 Abs. 2 ZPO in Hamburg statt (Zurückweisung der Berufung durch „einstimmigen“ Beschluss ohne mündliche Verhandlung). Daran nahmen teil der Präsident der Rechtsanwaltskammer für München und Oberbayern, Vizepräsident der Bundesrechtsanwaltskammer, Hansjörg Staehle, Prof. Dr. Beate Gsell, Universität Augsburg, Tilmann Holweg (www.522zpo.de), der zuständige Abteilungsleiter des ZPO/GVG-Referats im Bundesjustizministerium, Dr. Christian Meyer-Seitz und der Verfasser. Stellungnahmen wurden außerdem abgegeben per Telefon- bzw. Videokonferenz durch Prof. Dr. Reinhard Greger, Erlangen, und den Bundestagsabgeordneten der CSU, Norbert Geis.

Wenige Stunden nach dem Tag der deutschen Einheit musste festgestellt werden: Es ist vorbei mit der Feierlaune. In einem wichtigen Bereich des Zivilprozessrechts gibt es keine Rechtseinheit, sondern nach wie vor erhebliche und überflüssige Rechtszersplitterung, bewirkt durch die unendliche Geschichte des § 522 Abs. 2 ZPO (Reinelt, ZRP 2009, 203).

Die Diskussion bestätigte: Die Vorschrift ist inhaltlich und auch sprachlich vollständig verunglückt (zur fehlerhaften Interpretation der Negativaussagen in dieser Vorschrift vgl. Beitrag des rechtspolitischen Sprechers der CDU Jürgen Gehb, hierzu Reinelt, ZRP 2003, 2004, rechte Spalte, auch zu einer klareren Formulierung der Vorschrift). Der Gesetzestext macht deutlich, dass es sich nicht um eine Ermessensvorschrift handelt, sondern um eine zwingende Regelung. Gleichwohl wird sie in der Praxis ganz nach Ermessen und innerhalb der Bundesrepublik in den einzelnen Ländern, ja den einzelnen Kammern und Senaten von Gerichten völlig unterschiedlich und widersprüchlich gehandhabt. So werden etwa in Karlsruhe, Düsseldorf und Bremen nur 5 bis 6 %, in Bamberg und Saarbrücken über 25 % nach § 522 Abs. 2 ZPO entschieden. Im Ergebnis führt das zu Gerechtigkeitsdefiziten, Justizverdrossenheit und entgegen den Absichten des Gesetzgebers nicht zur Beschleunigung der Verfahren (Reinelt, ZRP 2009, 203). Der gegenwärtige Zustand ist unhaltbar. Nicht von ungefähr gibt es deshalb ständige Diskussionen um § 522 Abs. 2 ZPO und jetzt – erneut – Vorarbeiten im Bundesjustizministerium für einen Referentenentwurf.

Das Bundesverfassungsgericht hat zwar die grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit der Regelung bestätigt. Rechtsfrieden ist dennoch nicht eingetreten. Es kommen immer wieder Fälle zum Bundesverfassungsgericht, weil die Vorschrift in einer Weise angewendet wird, die verfassungsmäßig zugesagte Rechte verkürzt. Besonders anfällig ist die Vorschrift für Verletzungen des Anspruchs der Parteien auf rechtliches Gehör (Art.103 Abs.1 GG), und zwar unabhängig von der obligatorischen Hinweisverfügung des Gerichts, die einem Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO vorausgehen muss.

Der Rechtssuchende, der sich einem Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO ausgesetzt sieht, und eine mündliche Verhandlung nicht erzwingen kann, fühlt sich nicht als Rechtssubjekt wahrgenommen, sondern – Kafka lässt grüßen - als Spielball eines sich über seinem Kopf hinweg zusammenbrauenden Unheils. Das hindert wirklichen Rechtsfrieden und schürt Justizverdrossenheit. Dass die Vorschrift zu unsachgemäßem Gebrauch verleitet und Intransparenz Vorschub leistet, hat Egon Schneider schon kurz nach Inkrafttreten der Zivilprozessreform artikuliert (Praxis der neuen ZPO 2. Auflage, Rn. 817). Seine Prognose hat sich in der Praxis in betrüblicher Weise bestätigt.

Es verwundert deshalb nicht, dass alle Diskussionsteilnehmer – außer dem Vertreter des Justizministeriums – sich auch am 05.10.2010 in Hamburg dafür ausgesprochen haben, die Vorschrift vollständig zu streichen.

Die Schwächen der Vorschrift de lege lata

Eine Entlastung der Gerichte war schon bei Inkrafttreten des Justizreformgesetzes aus dem Jahr 2001 nicht notwendig. Gerade in Berufungsverfahren gehen die Eingänge ständig zurück. Nicht umsonst warnen Richter davor, das Argument der Überlastung der Richter zur Stützung der Beibehaltung des § 522 Abs. 2 ZPO heranzuziehen. Es könnte ja dann untersucht werden, ob die Richter in Berufungsverfahren wirklich überlastet sind (vgl. Reinelt, Überlastung der Richter im Zivilprozess? ZAP 2010, 243).

Es mag sein, dass Amtsgerichte und Landgerichte als erstinstanzliche Gerichte viel zu tun haben. Im Berufungsverfahren sind aber Richter gerade bei den Oberlandesgerichten wegen sinkender Eingangszahlen und wegen Änderungen in Gerichtsverfassung und Geschäftsverteilung ohnehin schon deutlich entlastet worden. Insbesondere gilt dies infolge der Übertragung von Fällen auf den Einzelrichter durch das ZPO-Reformgesetz aus dem Jahr 2001 (§ 526 ZPO). Die dadurch eingetretene beachtliche Entlastung taucht in keiner Statistik auf. Damit erweist sich eines der entscheidenden Argumente für die Beibehaltung der Vorschrift – angebliche Entlastung der Richter – als nicht tragfähig.

Darüber hinaus führt die Vorschrift auch entgegen der Absicht des Gesetzgebers (vgl. Entwurf zum Zivilprozessreformgesetz, BT-DrS 14-4722, S. 61, 96 u. 97) nicht wirklich zur Entlastung der Gerichte. Wenn die Regelung – auch unter dem Gesichtspunkt rechtlichen Gehörs – Ernst genommen wird, ergeht eine inhaltlich aussagekräftige Hinweisverfügung, deren Vorbereitung nicht weniger Arbeit machen dürfte als ein Votum für eine mündliche Verhandlung. Zu dieser Verfügung müssen die Parteien Stellung nehmen. Die Stellungnahme muss vom Berufungsgericht (drei Richtern) bearbeitet werden. Der Zurückweisungsbeschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO ist – nicht anders als ein Urteil – dann ausführlich zu begründen, wobei es mit einer bloßen Wiederholung der Hinweisverfügung nicht getan ist. Die Berufungskammer des Landgerichts oder der Senat des Oberlandesgerichts haben dabei die Reaktion der Parteien auf die Hinweisverfügung zu beachten und die bisherige Auffassung in einem zweiten Durchgang wiederum auf den Prüfstand zu stellen. Wo soll in diesem Zusammenhang Entlastung eintreten?

Gerechtigkeitsdefizite

Besonders stolz waren die Urheber der Vorschrift auf den Gerechtigkeitsgehalt der Regelung. Die frühere Bundesjustizministerin Brigitte Zypries meinte: Wenn mindestens vier Richter die gleiche Auffassung vertreten, garantiere diese Einstimmigkeit quasi auch die Richtigkeit des Beschlusses. Das ist aber ein Placeboargument. Fast jeder Richter bestätigt: die Einstimmigkeit ist in der Regel eine Zweistimmigkeit. Der dritte Richter (Gegenberichterstatter) kennt die Akten gar nicht. Ob der Vorsitzende sie – neben dem Berichterstatter – in allen Fällen ausführlich studiert, wird gelegentlich bezweifelt. Wer die Akte nicht genau kennt, orientiert sich am Votum des Berichtserstatters oder aber am Dictum des Vorsitzenden, das man möglichst schnell zu ergründen sucht (Reinelt, ZAP-Kolumne 2009, 211; ZRP 2009, 203).

Würde eine mündliche Verhandlung durchgeführt, könnte die unterliegende Partei ihre Stellungnahme in öffentlicher Verhandlung vortragen und damit auch den dritten Richter (Gegenberichterstatter) vielleicht zu einer anderen Beurteilung bewegen.

Die mündliche Verhandlung ist das Herzstück eines jeden Zivilprozesses. Zwar mag es sein, dass die Verfassung nicht gebietet, mehrere Instanzen zu eröffnen. Wenn sie aber eröffnet sind, sollte auf die mündliche Verhandlung in keinem Fall verzichtet werden, es sei denn, dass die Parteien sich darüber einigen (z.B. im schriftlichen Verfahren, § 128 Abs. 2 ZPO). Nur sie schafft Rechtsfrieden und kann gegebenenfalls auch den Unterlegenen überzeugen. Ein Zurückverweisungsbeschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO tut das in keinem Fall.

Was ist zu tun ?

In jedem Fall sind alle Versuche, ein Rechtsmittel gegen den Zurückweisungsbeschluss einzuführen, immer noch besser als die gegenwärtige Lösung. Allerdings bleiben sie regelmäßig auf halbem Wege stehen. Das gilt für alle bisherigen Reformvorschläge.

Zunächst hatte die FDP-Fraktion im vergangenen Jahr die Einführung einer Rechtsbeschwerde gegen den Zurückweisungsbeschluss unter Streichung von § 522 Abs. 3 ZPO befürwortet (vgl. dazu Reinelt, ZRP 2009, 203). Dass die Rechtsbeschwerde aber nicht der richtige Weg sein kann, hat man offenbar eingesehen. Der Gesetzesentwurf wurde in dieser Fassung nicht weiterverfolgt. Denn auf die Rechtsbeschwerde hätte der BGH in keinem Fall eine Endentscheidung treffen können, auch wenn er den angegriffenen Beschluss für falsch gehalten und einen Zulassungsgrund bejaht hätte.

In einer Podiumsdiskussion an der Universität Hannover unter Mitwirkung des niedersächsischen Justizministers Busemann zu Fragen der Reform des Prozessrechts wurde der Vorschlag unterbreitet, nach Erlass einer entsprechenden Hinweisverfügung, mit der der Zurückweisungsbeschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO angekündigt wird, den Parteien das Recht zu geben, auf Antrag die mündliche Verhandlung zu erzwingen. Interesse daran hat regelmäßig nur der Berufungsführer, der ja mit der Einlegung der Berufung dokumentiert hat, an seinen Prozesserfolg zu glauben.

Der Vorschlag aus Hannover sieht vor, dass der Berufungsführer, der einen solchen Antrag auf mündliche Verhandlung stellt, mit der Erhebung der doppelten Gerichtskosten (8,0-Gebühr statt 4,0-Gebühr nach GKG) belegt wird, wenn nach der mündlichen Verhandlung sein Unterliegen durch Urteil entsprechend dem zuvor ergangenen Hinweis bestätigt wird.

Ob eine solche Gebühren-Strafsanktion sinnvoll ist, mag bezweifelt werden. Selbstverständlich wird jede Partei, die Berufung eingelegt hat, von ihrem Recht auf Erzwingung der mündlichen Verhandlung Gebrauch machen, auch wenn sie mit erhöhten Gerichtskosten bedroht wird. Sonst würde sie ja das Eingeständnis abgeben, unüberlegt Berufung eingelegt zu haben. Der vorgeschlagene Zwischenschritt – Hinweisverfügung, Erzwingung der mündlichen Verhandlung und dann Entscheidung – ist überflüssig. Warum nicht gleich die ersatzlose Abschaffung des Verfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO?

Der aktuelle Standpunkt des Bundesjustizministeriums

Das einzige Argument, das in der Podiumsdiskussion in Hamburg am 05.10.2010 vom Vertreter des Justizministeriums für die Beibehaltung des § 522 Abs. 2 ZPO angeführt werden konnte, liegt in der Behauptung, ein großer Teil von Berufungsverfahren (nach seiner Angabe rund 17.000 im Jahr) erledige sich innerhalb kürzerer Frist als bei Durchführung des Berufungsverfahrens mit mündlicher Verhandlung. Die durchschnittliche Verfahrensdauer, die bei Einleitung eines Verfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO anfällt, soll 4,6 Monate betragen.

Es ist m.E. nicht sicher, ob auf diese Statistik Verlass ist. Sie enthält Einflussfaktoren, die genauer hinterfragt werden müssten und mit der Qualität des Verfahrens nichts zu tun haben. Denn möglicherweise handelt es sich um solche Fälle, die gerade auch mit mündlicher Verhandlung schnell hätten erledigt werden können. Vielleicht sind auch dabei die Fälle berücksichtigt, bei denen schon auf die Hinweisverfügung eine Rücknahme der Berufung erfolgt (angeblich in ca. vierzig Prozent der Fälle). Aber selbst wenn die Verfahren zu einer Beschleunigung beitragen würden: Diese darf niemals zu Lasten der Einzelfallgerechtigkeit und der Transparenz der Rechtsprechung gehen. Beides muss durch die Zivilprozessordnung gesichert sein. Sonst schafft sie sich selbst ab.

Von daher bleibt es dabei: Die Diskussion in Hamburg hat keinen überzeugenden Grund dafür aufgezeigt, der dagegen sprechen würde, § 522 Abs. 2 ZPO insgesamt zu streichen. Die Abschaffung dieser Vorschrift ist der einfachste, arbeitssparendste und sinnvollste Weg. Er verursacht keine zusätzlichen Kosten, beseitigt das Problem der zersplitternden Rechtsanwendung, behebt die heute zu beklagenden Gerechtigkeitsdefizite und trägt damit zum Rechtsfrieden bei. Eine zusätzliche Belastung der Berufungsgerichte tritt, wenn überhaupt, nur in geringem Umfang ein, weil das Verfahren des § 522 Abs. 2 ZPO auch ohne mündliche Verhandlung erheblichen Aufwand erfordert. Der BGH würde etwas mehr belastet werden. Andererseits wird aber diese Belastung durch die Filterfunktion der BGH-Anwaltschaft begrenzt (vgl. Reinelt ZRP 2009 Fach 4, S. 805). Außerdem hat der BGH die Möglichkeit und die Verpflichtung, die Zulassungsvoraussetzungen (grundsätzliche Bedeutung, Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Notwendigkeit der Rechtsfortbildung) zu prüfen. Dabei sind die Senate des BGH ohnehin so streng, dass in nur etwa 1/5 der Fälle bei Nichtzulassungsbeschwerden die Revision zugelassen wird.

Trotzdem wird vermutlich die Streichung des § 522 Abs. 2 ZPO – auch wenn die besseren Gründe dafür sprechen – rechtspolitisch nicht durchsetzbar sein. Offensichtlich sperren sich die Länder gegen diese Lösung. Möglicherweise befürchten sie zusätzliche Kosten. Aus meiner Sicht ist diese Befürchtung unbegründet. Auch ohne § 522 Abs. 2 ZPO lassen sich die Berufungsverfahren ohne Aufstockung der Justizhaushalte bewältigen.

Rechtspolitik besteht immer aus Kompromissen. Auch wenn überzeugende Gründe für die Beibehaltung des § 522 Abs. 2 ZPO nicht ersichtlich sind: Vor diesem Hintergrund sind jedenfalls Versuche, ein Rechtsmittel gegen den Zurückweisungsbeschluss einzuführen, immer noch besser als die Beibehaltung des gegenwärtigen Zustandes.

Der Referentenentwurf des BMJ

Wie sieht der Vorschlag aus, der gegenwärtig zur Vorbereitung eines Referentenentwurfs im Bundesjustizministerium erarbeitet wird?

Vorgesehen ist, dass gegen den Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO in Abweichung von § 522 Abs. 3 ZPO, der gegenwärtig jedes Rechtsmittel ausschließt, eine Nichtzulassungsbeschwerde eingeführt wird (nicht wie im früheren FDP-Entwurf eine Rechtsbeschwerde). Diese unterliegt der gleichen Grenze für die Beschwer nach § 26 Nr. 8 EGZPO wie das Berufungsurteil selber, ist also nur statthaft, wenn die Beschwer über 20.000,00 € liegt. Das dürfte ungefähr 4.000 der jährlich 17.000 Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO erfassen (davon der größte Teil Beschlüsse von Oberlandesgerichten). Vermutlich nur ein geringer Teil davon wird mit der Nichtzulassungsbeschwerde angegriffen werden. Davon lässt nach bisheriger Erfahrung der BGH in max. 20 % der Fälle die Revision zu, so dass die Belastung sich in Grenzen hält.

Außerdem soll der zwingende Charakter der Vorschrift dadurch betont werden, dass man eine substantiell allerdings völlig irrelevante Änderung im Text einführt.

Geltende Fassung:

„ Das Berufungsgericht weist die Berufung durch einstimmigen Beschluss unverzüglich zurück, wenn … „

Beabsichtigte Fassung:

„ Das Berufungsgericht hat die Berufung durch einstimmigen Beschluss unverzüglich zurückzuweisen, wenn …“

Die unmaßgebliche Änderung dieser Formulierung wird nichts daran ändern, dass die Berufungsgerichte - wie bisher – contra legem von der Vorschrift nach Ermessen Gebrauch machen und deshalb die regional unterschiedliche Praxis fortgeführt wird.

In einer Sonderregelung zur Vorschrift, deren Einzelheiten noch nicht dargestellt wurden, soll es den Berufungsgerichten zur Pflicht gemacht werden, in Fällen, die für eine Partei von existenzieller Bedeutung sind, von der Anwendung des § 522 Abs. 2 ZPO abzusehen und mündliche Verhandlung anzuordnen, gleichgültig ob die Berufung als aussichtslos beurteilt wird oder nicht. Es ist schon jetzt abzusehen, dass ein heftiger Streit darüber entbrennen wird, was Fälle von existenzieller Bedeutung sind.

In der Diskussion in Hamburg bestand Übereinstimmung, dass der Vorschlag besser ist als nichts. Dennoch bleibt er (wie schon zuvor der Vorschlag aus Hannover) auf halbem Wege stehen. Insbesondere bleibt unklar: Was soll der BGH auf die Nichtzulassungsbeschwerde entscheiden? Eine Endentscheidung durch den BGH wird nur in Ausnahmefällen möglich sein, nämlich dann, wenn der BGH einen Zulassungsgrund nach § 543 Abs. 2 ZPO bejaht und die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts nicht teilt, ohne dass es noch weiterer tatsächlicher Feststellungen bedarf. Denkbar ist das zum Beispiel, wenn der Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO von der ständigen Rechtsprechung des BGH in einer Rechtsfrage (z.B. Verjährung) abweicht (Divergenz) und der BGH anders als das Berufungsgericht und das Erstgericht die Verjährung für eingetreten hält.

In aller Regel wird der BGH aber nicht durchentscheiden können (§ 563 Abs. 2 ZPO), sondern entweder die Nichtzulassungsbeschwerde zurückweisen oder den Beschluss aufheben und das Verfahren an das Berufungsgericht zurückverweisen müssen (§ 563 Abs. 1 ZPO). Dann muss eine mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht am Ende doch stattfinden.

Letztlich ist das ein umständlicher, überflüssiger und erneut Justizressourcen bindender Weg. Erwägungen zur Kosteneinsparung können also die Beibehaltung des § 522 Abs. 2 ZPO nicht rechtfertigen. Die Streichung des § 522 Abs. 2 ZPO wäre einfacher, arbeitssparender und kostengünstiger. Außerdem beseitigt der vom Ministerium geplante Vorschlag nicht die bundesweite Rechtszersplitterung auf dem Gebiet des Zivilprozessrechts.

Gleichwohl ist die Einführung einer Nichtzulassungsbeschwerde immer noch besser als die beliebige Anwendung des § 522 Abs. 2 ZPO ohne die Möglichkeit einer Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht. Bereits der Umstand, dass die Berufungsrichter sehen, dass ihr Beschluss aufgehoben werden kann, wird sie zu erhöhter Sorgfalt bei der Abfassung eines solchen Beschlusses nach § 522 Abs. 2 ZPO veranlassen. Das liegt im Interesse des Rechtssuchenden.

Warum allerdings § 522 Abs. 2 ZPO nicht insgesamt gestrichen werden soll, ist nicht recht einzusehen und konnte in der Diskussion in Hamburg auch nicht überzeugend erklärt werden. Die Beibehaltung des § 522 Abs. 2 ZPO wird auch bei einer Änderung das Problem der diffusen Rechtsanwendung kaum lösen und die heute zu beklagenden Gerechtigkeitsdefizite zwar möglicherweise mindern, aber nicht ausschließen.

Fazit

Der Entwurf, der zunächst den jeweiligen Fachgremien der Ministerien intern zur Diskussion gestellt werden soll und vermutlich im November als Referentenentwurf vorgelegt werden wird, verbessert die Situation für den Rechtssuchenden. Aber der nach wie vor bessere Weg ist die vollständige Abschaffung der umstrittenen Vorschrift. Noch kann man hoffen, dass der Gesetzgeber sich darauf besinnt.