ZAP Sonderausgabe 2009 zum 20-jährigen Jubiläum der ZAP, Seite 65 Hirnforschung und Rechtswissenschaft Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof I. Einleitung Im Jahre 1882 verkündete FRIEDRICH NIETZSCHE in seinem Buch „Die fröhliche Wissenschaft" das größte neuere Ereignis — „dass Gott tot ist" (FRIEDRICH NIETZSCHE „Die fröhliche Wissenschaft", 5. Buch „Wir Furchtlosen", Kapitel 343). Hirnforscher proklamieren heute: Entscheidungsfreiheit existiert nicht. Hat die Hirnforschung dafür gesorgt, dass wir die zivilrechtliche Rechtsgeschäftslehre, den Begriff der Schuld und der strafrechtlichen Verantwortung auf den Kehrichthaufen der Rechtsgeschichte werfen müssen? Oder haben Gott und die Entscheidungsfreiheit ihre Totbeter überlebt? II. Widerlegen Experimente die Entscheidungsfreiheit? Die zivilrechtliche Rechtsgeschäftslehre und die strafrechtliche Verantwortlichkeit setzen nach Vorstellung des Gesetzgebers die Möglichkeit voraus, dass auch anders gehandelt werden kann (vgl. BURKHARDT, Analyse und Kritik 1981, S. 155: „Überlegungen zu einer dispositionalen Deutung des Andershandelnkönnens"). Grundlage der Lehre von der Handlung ist eine freie (relativ) indeterminierte Entscheidung des Handelnden. In manchen Stellungnahmen wird hier gegen Windmühlen gekämpft: Der relative Indeterminismus bestreitet ja nicht, dass die möglichen Entscheidungsalternativen nicht ihrerseits durch zahlreiche Faktoren bedingt sind (REINELT, „Entscheidungsfreiheit und Recht", NJW 2004, 2792). So rennt z. B. SEIDEL (NJW 2009, 2415 und NJOZ 2009, 2106 [Langfassung] „Wille und Verantwortung —das Gehirn moduliert den Determinismus") offene Türen ein, wenn er ausführt, dass ein radikal freier, durch die Kausalität nicht beeinflusster Willen mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaft nicht vereinbar sei. Von einem unbegrenzt freien Willen spricht der relative Indeterminismus gerade nicht. Die Ausführungen von SEIDEL lassen allerdings mitnichten schlüssige Argumentationen dafür erkennen, dass „das Postulat eines freien Willens" aufgegeben werden müsse. Dass — wie SEIDEL ausführt — auf der Basis von Ursachenabwägungen entschieden wird, schließt die freie Entscheidung zwischen verschiedenen möglichen Alternativen —seien diese auch durch alle möglichen Ursachen bedingt— keineswegs aus. Es ist Mode geworden, auf naturwissenschaftliche Forschungen zur Funktionsweise und angeblichen „Entschlüsselung" des Gehirns zu verweisen, um die Freiheit der Entscheidung und damit den relativen Indeterminismus als Illusion zu entlarven. Hirnforscher wie GERHARD ROTH oder WOLF SINGER, die physiologische und biochemische Vorgänge im Gehirn als Bedingungen menschlichen Handelns untersuchen, halten die Entscheidungsfreiheit und den (relativen) Indeterminismus durch naturwissenschaftliche Forschungen für widerlegt (WOLF SINGER: „Der Beobachter im Gehirn", 2002, S. 169, „Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören von Freiheit zu sprechen"). GERHARD ROTH meint („Das Gehirn und seine Wirklichkeit", Geist und Gehirn 1997, S. 306): „Das Bewertungsgedächtnis, in dem unsere gesamte Lebenserfahrung abgelegt ist, steuert unser Verhalten. Es entscheidet unter Berücksichtigung der jeweiligen Reize aus der Umwelt und meinem Körper, was ich im nächsten Augenblick tue" (und weiter auf S. 309)„... die LIBETSCHEN Versuche zeigen deutlich: Das Gefühl des Willensentschlusses ist nicht die eigentliche Ursache für eine Handlung, sondern eine Begleitempfindung." (Zur Deutung der neuesten Experimente in C. H. GEYER, „Hirnforschung und Willensfreiheit", 2004, S. 30, 64-66). Man solle deshalb — so die Hirnforscher — prüfen, ob es nicht vorteilhaft wäre, von der Natur zu lernen und die Entscheidungssysteme in Politik und Wirtschaft an neuronalen Entscheidungsarchitekturen zu orientieren. Die Forscher versuchen zu analysieren, an welchen Stellen sich z. B. religiöse Gefühle lokal im Gehirn manifestieren und schließen daraus, dass ihr Gegenstand nur ein Produkt der Vorstellung sei. Freie Entscheidung gilt nach ihrer Auffassung grundsätzlich als Illusion. Begründet wird das meist mit dem Hinweis auf die Experimente von LIBET (BENJAMIN LIBET, „Mind Time", 2004, „Wie das Gehirn Bewusstsein produziert", Kapitel „Handlungsabsicht: Haben wir einen freien Willen?"). Probanden heben in dem Moment den Finger zum Zeichen, dass sie sich entschieden haben, zu dem sie sich einer Entscheidung bewusst werden. Es stellt sich heraus, dass dieser Zeitpunkt (bei einfachen Alltagsentscheidungen) nach demjenigen liegt, der den Beginn der Handlung kennzeichnet. Aus diesen u. a. von HAYNES (Hirnforschung — Wissen auf Zeit Online, „Der unbewusste Wille", S. 2) fortgeführten und verfeinerten Experimenten wird der Schluss gezogen, dass die menschliche Handlung (in diesen Fällen oder immer?) zu einem Zeitpunkt geschieht, bevor eine — möglicherweise freie — Entscheidung als Bewusstseinsakt wahrgenommen und vom Probanden auf einen bestimmten Zeitpunkt festgelegt wird. Wenn Prozesse, die Entscheidungen steuern, unbewusst erfolgen, bevor Abwägung stattfindet, muss es — so die Hirnforscher— an einer die Handlung steuernden freien Entscheidung (oder einem Willensentschluss) fehlen. Taugen diese Experimente tatsächlich für die Schlussfolgerung, es gäbe — niemals — eine freie Entscheidung? Das wird m. E. mit Recht bestritten. So führt LINKE aus (Die Freiheit und das Gehirn — Eine neurophilosophische Ethik, 2005, S. 253): „Über die Freiheit des Menschen kann nicht allein aus der Betrachtung seiner neuronalen Tätigkeit befunden werden." LINKE hält deshalb überzeugend die Schlussfolgerungen der Hirnforscher SINGER und ROTH für unzureichend (5. 257, a. a. 0.; ebenso SANDKÜHLER „Kritik der Repräsentation", 2009, S. 183, 187). Dass im Gehirn vorbereitende Aktionen ablaufen und festgestellt werden können, bevor sich eine Entscheidung oder gar erst deren Bewusstmachung vollzieht, Prozesse, die durch Anlage und Erfahrung des Gehirns gesteuert sind, ist auch für den Laien klar. Die vorher in Gang gesetzten Prozesse besagen aber nichts dafür, welchen Inhalt eine getroffene Entscheidung hat, also ob sich der Proband für den linken oder rechten Knopf entscheidet, auch wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der Linkshänder den linken Knopf drückt. Sie lassen deshalb auch keinen Rückschluss auf die Determiniertheit des Inhalts der Entscheidung aufgrund ihres zeitlichen Vorsprungs zu. Biochemische und hirnphysiologische Analysen können keinerlei zwingende Aussagen über den Inhalt einer getroffenen Entscheidung liefern. Das lässt sich auch nicht mit dem Hinweis darauf widerlegen, dass entsprechend vom Experimentator gesteuerte Versuchsanordnungen den Probanden manipulieren und zu bestimmten voraussagbaren Handlungen veranlassen oder dadurch, dass bestimmte Hirnschädigungen Handlungs- und Wesensveränderungen bei einem Patienten zur Folge haben können. Über den möglichen Inhalt einer Entscheidung eines Handelnden, der solchen Einflüssen nicht ausgesetzt ist, sagen diese Erkenntnisse nichts aus. Auch wenn die Hirnforscher meinen, alles beruhe auf determinierenden neuronalen Varianten, haben sie bis heute nicht bewiesen, dass der Proband sich nicht auch anders entscheiden kann. Aus DOSTOJEWSKIS „Schuld und Sühne" wissen wir, dass RASKOLNIKOW die wucherische Vermieterin erschlagen hat (PETER BIERI: „Das Handwerk der Freiheit", 2001, entwickelt anhand des Beispiels von DOSTOJEWSKIS Roman kenntnisreich „Die Stufen der Entdeckung des eigenen Willens"). Aber aus der Sicht ex ante bleibt — auch wenn wir alle Motive, Überlegungen und Prädispositionen von RASKOLNIKOW kennen würden — bis zum Zeitpunkt der Tat offen, ob sie geschieht oder nicht. Wer einen BECHSTEIN-Flügel in seine Bestandteile zerlegt und dessen materielles Substrat analysiert, hat deshalb die Konstruktion und das musikalische Rätsel einer eben auf dem Instrument gespielten BACH-Fuge nicht gelöst. Ein Chirurg, der trotz unzähligen Obduktionen nichts von einer Seele gefunden hat, vermag deren Existenz nicht zu widerlegen. Die Bedeutung der LIBET-Experimente wird überschätzt: Sie sagen nichts aus über komplizierte Entscheidungsvorgänge, die ausführliche Abwägungen eines Für und Wider verlangen und gestatten. Vielmehr beschränken sie sich auf Alltagsvorgänge, bei denen der Entscheidungsvorgang nach einem eingeübten Automatismus abläuft. Ob deshalb aus diesen Untersuchungen Folgerungen für komplexere Entscheidungen möglich sind, ist höchst fraglich. Sind deshalb die Ergebnisse der Hirnforscher gleichwohl sakrosankt? (SPILGIES HRRS 2005, 43 meint, ärgerlich seien in der aktuellen Debatte Äußerungen, die versuchen, die Bedeutung und Präsenz der Kritik der Hirnforscher herunterzuspielen, a. A. KUDLICH HRRS 2004, 214, vgl. auch TONIO WALTER, in: Festschrift für F.-C. SCHROEDER 2006, S. 131). Es unterliegt keinem Zweifel: Viele, vielleicht die meisten menschlichen Handlungen sind instinktiv, gewohnheitsmäßig oder intuitiv bedingt, also nicht von einer vorausgehenden bewussten Abwägung gesteuert. Aber lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass das für alle menschlichen Handlungen gilt? Intuitive oder gar automatische Alltagsentscheidungen lassen keine Schlüsse auf bewusste Abwägungsvorgänge und anders geartete Handlungen zu, die von größerer Bedeutung sind und bei denen Entscheidungsprozesse eine wichtige Rolle spielen. Der Ansatz der Hirnforscher, das menschliche Handeln ausschließlich aus dem Gehirn begreifen zu wollen, wird allerdings zunehmend infrage gestellt. Die neuronalen Muster unterliegen zwar dem naturwissenschaftlichen Kausalzusammenhang, zugleich aber — wie FUCHS ausführt — einer „übergeordneten Bestimmung durch nicht physikalische Funktions- und Bedeutungszusammenhänge, insbesondere durch die individuelle Lerngeschichte des Lebewesens, die sich in seinem leiblichen, seelischen und geistigen Vermögen niedergeschlagen hat" (THOMAS FUCHS, Das Gehirn: Ein Beziehungsorgan, 2008; vgl. auch PAWLIK, FAZ v. 24.8. 2009, Nr. 195, S. 6). Es kann daher durchaus auch unter dem Gesichtspunkt neuerer naturwissenschaftlicher Forschungen bezweifelt werden, ob die ausschließliche Konzentration auf das Gehirn als zentrales Organ für alle menschlichen Handlungen ausreicht oder nicht vielmehr der Mensch insgesamt (als physisch-geistiges Wesen) betrachtet werden muss. Die Hirnforschung ist der Auffassung, Gehirnaktivitäten und menschliche Gefühle in bestimmten Regionen des Gehirns lokalisieren und mit modernen Tomographen auch visualisieren zu können. Untersuchungen von CRAIG BENNETT stellen diese Hypothese in Frage. BENNETT hat Daten über angebliche Gehirnaktivität bei einem toten Lachs mit einem modernen Kernspin- oder Magnetresonanztomographen (MRT) erhoben und dabei „erhöhte Hirnaktivität in einem speziellen Bereich des Denkorgans" visualisiert (vgl. KATHRIN BLAWAT, „Geistesblitze eines toten Fisches", Süddeutsche Zeitung, 24. 9. 2009, S. 18). Dieses Experiment legt den Verdacht nahe, dass die Hypothesen der Hirnforscher— genaue Lokalisierung von Gefühlen und/oder Entscheidungsprozessen — auf brüchigem Fundament stehen. Wenn eine Lokalisierung von Funktionen und Gefühlen im Gehirn überhaupt möglich ist, kann dies nur für primäre sensorische und motorische Areale stimmen und gerade nicht für komplexere Funktionen. Das steht nach Auffassung anderer Forscher außer Zweifel (RÜSCHEMEYER, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10. 5. 2009, Nr. 19, S. 64: „Die Illusion von Einsicht: Neurologen wollen beobachtet haben, wo Gott, die Liebe oder die Politik im Hirn wohnen. Ist das exakte Wissenschaft oder Humbug?"). Die Analyse neuronaler Vorgänge im Gehirn, deren Aussagekraft für verschiedene Handlungen durchaus umstritten ist, veranlasst führende Vertreter der Hirnforschung dazu, Entscheidungsfreiheit generell zu leugnen. Worauf beruhen diese apodiktisch als unumstößliche Wahrheit verkündeten Schlussfolgerungen? III. Die Schlussfolgerungen der Hirnforscher Vereinfacht liegt der — Entscheidungsfreiheit leugnenden — Argumentation der Hirnforscher folgende Gedankenkette zu Grunde:
Dieser Schluss enthält mehrere — evidente — logische Fehler, und zwar in allen Gliedern des Syllogismus: Schon der Obersatz stimmt nicht (proton pseudos, vgl. EGON SCHNEIDER, Logik für Juristen, 5. Aufl., § 52, S. 248 ff. Ich zitiere bewusst aus der 5. und nicht aus der neuesten Auflage, weil das die letzte Auflage ist, die EGON SCHNEIDER selber bearbeitet hat): Entscheidungsfreiheit ist auch denkbar, wenn die Entscheidung eine in Gang gesetzte Handlung stoppen kann. Das haben die Experimente gezeigt und LIBET hat das selber bestätigt (LIBET, „Mind Time", 2005, „Das bewusste Veto", S. 177 ff., insbesondere S. 181: „Die Existenz der Veto-Möglichkeit steht außer Zweifel)." Der Untersatz ist fehlerhaft, weil der Begriff des „Bewusstseins" hier anders zu definieren ist als im Obersatz: Bewusstsein ist dort der Auslöser der Handlung, hier die davon zu unterscheidende Wahrnehmung einer früheren Aktion. Das ist der typische Fehler der Begriffsvertauschung (quaternio terminorum = Begriffsvertauschung, EGON SCHNEIDER, a. a. 0., § 43, S. 200 ff.). Die Conclusio schließlich leidet an dem auch in der Wissenschaft häufig auftauchenden Fehler der voreiligen Verallgemeinerung (transitus a dicto secundum quid ad dictum simpliciter, vgl. SCHNEIDER, a. a. 0., § 49, S. 236 ff.). Nachweise, die (evtl.) das Fehlen vorangehenden Bewusstseins bei einer bestimmten Kategorie menschlicher Handlungen belegen, lassen keine zwingenden Schlüsse auf andere (und damit alle) menschlichen Handlungen zu. Bei der voreiligen Verallgemeinerung liegt der Fehler darin, dass ein Teilgrund im Obersatz (der sich nur auf manche menschlichen Handlungen bezieht) niemals den Schlusssatz mit Notwendigkeit, allenfalls mit Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, auf alle Gründe (hier: Handlungen) ergeben kann. Ein unvollständiger Induktionsschluss (enthymen) ist niemals ein zwingender Schluss (vgl. MEYERS Lexikon, Band XIV, S. 14. 545 „Schlusssatz", Lexikon 1988). Mit anderen Worten: Von einzelnen Experimenten, die bei einfachen menschlichen Handlungen vorgenommen worden sind, lässt sich kein Schluss auf alle anderen menschlichen Handlungen ziehen. Mit derart brüchigen Schlussfolgerungen lässt sich also die These der Hirnforscher nicht rechtfertigen. IV. Zur Struktur von Handlungen Ein entscheidender Fehler besteht darin, dass nicht ausreichend zwischen verschiedenen Kategorien von Handlungen unterschieden wird. Wenn etwa ein Fahrschüler das Autofahren lernt, wird er sich vor jeder einzelnen Handlung (Einlegen eines Gangs, Tritt auf die Bremse) genau überlegen, was er tut. Erst dann wird er handeln. Dagegen wird ein seit Jahrzehnten geübter Autofahrer solche Vorgänge ohne bewusste Überlegung automatisch absolvieren. Ähnlich ist es bei den meisten intuitiven Handlungen, die häufig zu überraschend richtigen Ergebnissen führen, ohne dass ein Entscheidungsprozess vorausgegangen ist. So laufen auch die Untersuchungen bei den LIBET-Probanden ab, die durch die Art und Weise der Forschungsanordnungen vorprogrammiert sind. Die Teilnehmer am Experiment werden aufgefordert, einen Finger zu heben, wenn sie glauben, ihre Entscheidung sei gefallen, ob sie auf den roten oder grünen Knopf gedrückt haben. Die Experimente gleichen also dem Verhalten eines geübten Autofahrers. Es geht um eine einfache Aktion des Alltags, die eine eingeübte Bewegungskoordination zur Folge hat. Aus diesen automatisch gesteuerten Handlungsabläufen des Alltags den Schluss zu ziehen, dass die Entscheidung immer der Aktion nachfolgt, ist fehlerhaft. Es ist unmöglich, aus derart automatisch eingeübten Vorgängen Schlüsse auf die Entscheidungsfreiheit in allen anderen Fällen zu ziehen (kritisch gegenüber den apodiktischen Schlussfolgerungen der Hirnforscher auch HABERMAS: „Freiheit und Determinismus", Deutsche Zeitschrift für Philosophie 6/2004, 5. 871, 890). Handlungen und Entscheidungen sind unterschiedlich strukturiert. Für Entscheidungen mit Tragweite, denen komplexe Abwägungsvorgänge vorausgehen, sagen die Experimente nichts aus. Natürlich gibt es determinierende neuronale Varianten, auch dann, wenn eine bewusste Entscheidung getroffen wird. Diese ist daher sicherlich beeinflusst von solchen Bedingungen. Ungeklärt ist aber die Frage, ob und inwieweit wir uns gegen eine solche Konditionierung entscheiden können oder nicht. Man muss auch zwischen verschiedenen Arten von Handlungen unterscheiden. Es gibt zweifellos Handlungen, die dem Handelnden überhaupt nicht bewusst werden. Schließlich kann man Bewusstsein steigern oder vernachlässigen, je nachdem ob man sich stark oder gar nicht konzentriert. So ist der Auswahlprozess der Wahrnehmung stark von der Konzentration oder Fokussierung auf einen bestimmten Gegenstand abhängig. Suche ich bei Feinkost-Wawra (MERZ/QUALTINGER, „Der Herr Karl", 1961) gezielt nach einem bestimmten französischen Cognac, würden mir die verschiedenen dort angebotenen aromatische Alkoholika wie Eierlikör, Kaiserbirn oder Glühwürmchen nicht auffallen. U. U. können auch Entscheidungen von großer Tragweite gewissermaßen automatisiert ohne oder mit verminderter Reflexion getroffen werden, beispielsweise die Tötung eines Anderen im Affekt. In solchen Fällen stellt sich dann nur die Frage, ob die Entscheidung — gewissermaßen als Kontrollinstanz —einer Handlung eine andere Richtung hätte geben können. Und dann gibt es Entscheidungen, die von großer Komplexität sind und in verschiedenen Teilakten ablaufen. Vielleicht habe ich mich schon am Vortag entschieden, mich um einen Arbeitsplatz zu bewerben und setze mich am nächsten Tag an den Computer oder die Schreibmaschine, um ohne erneute zielgerichtete Überlegungen meinen Lebenslauf zu schreiben. Lässt sich aus einem solchen in mehreren Teilakten sich vollziehenden Ablauf schließen, dass die originäre Entscheidung nicht am Anfang der Handlung steht? Ich glaube nicht. Ob also in Fällen, in denen es um fundierte Willensentscheidungen geht, denen Abwägungsvorgänge zu Grunde liegen, das episodische Gedächtnis und die Prädisposition des Handelnden die Entscheidung auch inhaltlich determiniert, ist von der Hirnforschung — soweit wir sie als Geisteswissenschafter verstehen können — offensichtlich nicht geklärt und kann möglicherweise auch nicht geklärt werden. Und vollständig offen und unklärbar bleibt letztlich die Frage nicht nur nach dem „Ob", sondern auch nach dem „Warum" der Entscheidung. Deshalb lassen sich aus den LIBET-Experimenten und ihren Verfeinerungen nicht derart weit gehende Schlüsse ziehen, wie die Hirnforscher das unabdingbar für richtig halten. Darüber hinaus verwechselt der zu Unrecht verallgemeinernde, mit imperialer Geste vorgetragene Schluss auf das Ende der freien Entscheidung verschiedene Vorgänge: Die Wahrnehmung des Bewusstwerdens einer gedanklichen Auslösung einer Aktion durch das Bewusstsein ist weder identisch noch geschieht sie zeitgleich mit dem eine Handlung möglicherweise steuernden Bewusstseinsakt (REINELT NJW 2004, 2792). Diese Gleichsetzung in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht und die Verallgemeinerung der Vorgänge, die bei einfachen Automatismen festgestellt wurde, ist die fehlerhafte Basis aller aus den LIBET-Experimenten und den daran anschließenden Untersuchungen gezogenen Schlussfolgerungen. Es ist durchaus denkbar, dass ich eine Entscheidung treffe und diese Entscheidung ausführe, bevor mir klar wird, dass ich diese Entscheidung getroffen habe. Die Frage, ob die Entscheidung inhaltlich frei ist oder nicht, ist in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht nicht identisch mit der Frage, wann ich sie als freie Entscheidung wahrnehme. Der Akt der Entscheidung — mag er auch mir noch nicht bewusst geworden sein — ereignet sich eben vor dem Zeitpunkt, zu dem ich die Bewusstmachung artikulieren und bestätigen kann. Daraus den Schluss zu ziehen, dass die Entscheidung nicht frei sein kann, weil ich mir ihrer erst später bewusst werde, ist logisch nicht stringent. Ich verweise auf die oben dargestellte Begriffsvertauschung (quaternio terminorum). Es ist denkbar, dass eine Entscheidung getroffen wird, und zwar von einem autonom handelnden Subjekt außerhalb des deterministischen Kausalverlaufs, ohne dass ich mir im gleichen Zeitpunkt über diesen indeterministisch getroffenen Entscheidungsakt im Klaren bin. Das Bewusstsein kann das u. U. auch erst später erfassen. Deshalb hat LIBET bei seinen (einfach strukturierten) Experimenten auch durchaus die Möglichkeit eingeräumt, dass der (möglicherweise) freie Wille als eine Art Kontrollinstanz gegenüber dem Bereitschaftspotenzial des sich Entscheidenden fungieren kann, dass also die Willensentscheidung dem Bereitschaftspotenzial nachfolgt und eine solche Aktion entweder billigt oder stoppt. Schließlich lässt sich aber vor allem der eingespielte Automatismus bei Alltagsentscheidungen, der möglicherweise längere Zeit vor der Bewusstwerdung solcher Entscheidungen abläuft, nicht vergleichen mit Handlungen, die solchen Entscheidungen nachfolgen, welche nach sorgfältiger Abwägung, gegebenenfalls auch eines moralischen Für und Wider, getroffen werden. Vielleicht erfasst die belletristische Literatur Vorgänge um Entscheidung und Handlung überzeugender, als es die Hirnforschung tut. Der Schriftsteller und Jurist BERNHARD SCHLINK schreibt dazu in seinem bekannten Roman „Der Vorleser" (S. 21/22): „Ich denke, komme zu einem Ergebnis, halte das Ergebnis in einer Entscheidung fest und erfahre, dass Handeln eine Sache für sich ist und der Entscheidung folgen kann, aber nicht folgen muss.... Ich meine nicht, dass Denken und Entscheidung keinen Einfluss auf das Handeln hätte. Aber das Handeln vollzieht sich nicht einfach danach, was davor gedacht und entschieden wurde. Es hat seine eigene Quelle und ist auf ebenso eigenständige Weise mein Handeln, wie mein Denken mein Denken ist und mein Entscheiden mein Entscheiden." Das bringt zum Ausdruck: Handeln kann durchaus eine eigenständige Kategorie sein. Das Entscheiden muss nicht immer — kann aber— am Anfang stehen. V. Ungelöste Rätsel Die weit verbreiteten apodiktischen Verkündigungen von Schlussfolgerungen durch Hirnforscher ex cathedra, die die Ergebnisse der Gehirnforschung für einen zwingenden Beweis des Endes der Entscheidungsfreiheit halten, wirken vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und der evidenten logischen Fehlerhaftigkeit der Schlussfolgerungen befremdlich. Auch wenn viele Handlungen determiniert sein mögen, bedarf es zur Widerlegung der freien Entscheidung und damit der Rechtfertigung des uneingeschränkten Determinismus des Nachweises, dass alle menschlichen Handlungen nicht auf freier Entscheidung beruhen. Bleiben nur einige (oder bleibt vielleicht nur eine) übrig, ist der (relative) Indeterminismus, der die Grundlage der Rechtswissenschaft ist, nicht widerlegt. Von dieser Widerlegung ist die Hirnforschung aus der Sicht des Rechtswissenschaftlers weit entfernt. Haben sich die Wissenschaftler mit ihren — aus richtigen Erkenntnissen gewonnenen, aber nicht zwingenden — Schlussfolgerungen, die Abweichungen als naive Beharrungsversuche Ewig-Gestriger und als ärgerlich (SPILGIES HRRS 2005, 43, zu meiner Äußerung in NJW 2004, 2792 gegen SCHIEMANN NJW 2004, 2056) bezeichnen, nicht in ähnlicher Weise verirrt wie seinerzeit die Solipsisten? Der Solipsismus (vor allem vertreten von MAX STIRNER: „Der Einzige und sein Eigentum", 1845 im Gefolge der idealistischen Philosophie, insbesondere im Anschluss an SCHOPENHAUER „Die Welt als Wille und Vorstellung", 1818-1844) kann scheinbar stringente Argumentationen für seine Theorien beanspruchen: Wenn die Welt im Kopf entsteht, wie die idealistische Philosophie meint, warum soll dann außerhalb meines eigenen Denkens überhaupt etwas existieren? Bin ich nicht allein auf der Welt? Ist nicht alles andere „Maya", Illusion und Einbildung? Oder ist gar—was mich zu umgeben scheint— ein „eigens für mich (aber von wem?) bereitetes Schauspiel" (vgl. den Roman von HERBERT ROSENDORFER: „Ballmanns Leiden — Oder Lehrbuch für Konkursrecht" oder den amerikanischen Spielfilm „Truman-Show" mit JIM CAREY). Diese aus der deutschen idealistischen Philosophie konsequent weiterentwickelte Irrlehre erscheint dem gesunden Menschenverstand bei natürlicher Betrachtung und unter Berücksichtigung der Erfahrung als Erkenntnisquelle ebenso evident absurd wie die Vorstellung, man könne sich in keinem einzigen Fall frei entscheiden. Ob diese Evidenz nur ein irrlichterndes Produkt neuronaler Funktionen ist oder vielleicht doch eine darüber hinausgehende Bedeutung hat, sei dahingestellt. Der quasi-religiöse Autoritätsanspruch (z. B. von SINGER „Der Beobachter im Gehirn", 2002, S. 169 ff.), den die Hirnforscher mit ihren auf tönernen Füßen stehenden Schlussfolgerungen erheben, steht in bemerkenswertem Gegensatz zum empirischen Erleben. Das haben die Schlussfolgerungen der Hirnforscher mit dem Solipsismus, vielleicht sogar mit NIETZSCHES These gemeinsam. Ebenso wie der Solipsismus sich überzeugt zeigt, dass nichts außerhalb meines eigenen Denkens existiert, meinen die Hirnforscher, die allgemeine Überzeugung und Erfahrung, man könne sich frei entscheiden, sei ihrerseits nichts Anderes als ein biochemisch und hirnphysiologisch gesteuertes Ergebnis einer irrigen Vorstellung. Kann es wirklich sein, dass die Menschheit sich so über die Realität täuscht und tatsächlich nichts existiert außerhalb meines eigenen Denkens und die freie Entscheidung Illusion ist? Oder täuschen sich nicht die Hirnforscher ebenso wie der Solipsist über das, was ganz selbstverständlich erscheint: Es gibt eine Welt außerhalb unserer Vorstellung und ich kann mich —jedenfalls in gewissem begrenztem Rahmen — undeterminiertfrei entscheiden. Die Geschichte gerade der Naturwissenschaften zeigt: Wissenschaftliche Erkenntnisse verändern und steigern sich in rasantem Tempo. Was heute apodiktisch als Wahrheit verkündet wird, kann morgen schon widerlegt sein und als überholt gelten. Das gilt nicht nur für die eine oder andere päpstliche Bulle aus den vergangenen Jahrhunderten, sondern auch für Glaubenssätze mancher Hirnforscher. Warum sollen wir gerade heute an einem Punkt von ultimativen Erkenntnissen angekommen sein, die die gesamte abendländische Kultur einschließlich deren Rechtsgrundlagen auf den Kopf stellen? Wir sind es offensichtlich nicht. Bis heute ist absolut nicht erkennbar, dass die Hirnforschung alle Rätsel um menschliche Entscheidungen und Bewusstseinsinhalte gelöst hätte, die vielen Handlungen vorausgehen. Keine Erkenntnis und kein Experiment zwingen uns zu der Schlussfolgerung, dass „Andershandelnkönnen" schlechthin ausgeschlossen ist. Schon gar nicht kann aus der Analyse einzelner, gewohnheitsmäßiger, intuitiv oder instinktiv ablaufender Handlungen der Schluss gezogen werden, dass bei allen menschlichen Handlungen freie Entscheidungen keine Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund besteht auch kein Anlass, die Grundlagen der bis heute geltenden Rechtsgeschäftslehre oder des strafrechtlichen Schuldbegriffs infrage zu stellen. Die Erkenntnisse der Hirnforschung erschüttern unverändert in keiner Weise die Grundlagen der Rechtswissenschaft. Vl. Schlussbemerkung In einem Interview in der Zeitschrift „Gehirn und Geist" (Heft 4/2002) äußert sich WOLF SINGER erstaunt darüber, wie wenig beeindruckt sich „juristische Kreise" von den Erkenntnissen und Schlussfolgerungen der Hirnforscher zeigen. Aus der Sicht des Rechtswissenschaftlers ist dagegen erstaunlich, wie sehr die Hirnforscher (vielleicht neuronal determiniert?) mit den Gesetzen der Logik auf Kriegsfuß stehen. Selbstverständlich ist die Logik allein kein Garant für richtige Erkenntnisse. Ohne Beachtung ihrer Gesetze kann aber auch aus richtigen Vordersätzen kein zwingender Schluss gezogen werden. Das Ergebnis einer die logischen Gesetze verletzenden Schlussfolgerung kann allenfalls zufällig richtig sein, ist aber i. d. R. falsch und niemals mit Notwendigkeit zutreffend. Die Schlussfolgerungen der Hirnforscher sind jedenfalls wegen zahlreicher Verstöße gegen die Gesetze der Logik nicht zwingend und daher keine wissenschaftlich korrekt gewonnenen Ergebnisse. Mit ihren Argumenten lässt sich deshalb die Grundlage der Rechtswissenschaft nicht erschüttern. Der Umstand, dass die Hirnforscher die bewundernden Blicke der Rechtswissenschaft auf des Kaisers neue Kleider lenken wollen, bietet nicht im geringsten Anlass, die Grundlagen der Lehre von der Handlung infrage zu stellen. Entscheidungsfreiheit mag bisher nicht vollständig schlüssig bewiesen worden — vielleicht auch nicht letztlich beweisbar — sein. Keinesfalls ist sie aber bis heute als bloßes Gefühl, Irrtum oder gar leerer Wahn entlarvt worden. Vielleicht ist die Überzeugung, dass ich mich frei entscheiden kann, doch weit mehr als ein bloßes Gefühl. Auf dieser Evidenz der freien Entscheidung basiert die gesamte abendländische Rechtsgeschichte. Entscheidungsfreiheit ist und bleibt, auch für das Straf- und Zivilrecht— wie in den vergangenen Jahrhunderten — nach wie vor eine unerschütterte Säule unseres Rechtssystems.. |