§ 139 ZPO – Die richterliche Prozessförderungspflicht in der Praxis - § 139 ZPO als „Magna Charta“ des Zivilprozesses Mit Recht wird die richterliche Prozessförderungspflicht des § 139 ZPO – Kernstück eines fairen Prozessverfahrens – als „Magna Charta“ des Zivilprozesses bezeichnet (Baumbach/Lauterbach 65. Auflage 2007, Rd.-Nr. 1). Die ZPO kennt anders als das FGG (§ 12 FGG) keine Amtsermittlung. Die Parteien haben nach dem Grundsatz der Verhandlungsmaxime den Prozessstoff selber vorzutragen. Demgegenüber beschreibt die zentrale Vorschrift des § 139 ZPO mit ihrer Regelung der Hinweis- und Prozessförderungspflicht von Amts wegen zu erfüllende Pflichten des Richters zur sachlich-rechtlichen Prozessleitung. Sie soll ein faires Verfahren für die Parteien und rechtliches Gehör für sie gewährleisten. Damit soll sie insbesondere dazu beitragen, den verfassungsrechtlich abgesicherten Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Artikel 103 Abs. 1 GG zu verwirklichen. Diesen Grundsatz hat das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Entscheidungen betont. Die Wahrung des rechtlichen Gehörs der Parteien vor Gericht (Artikel 103 Abs. 1 GG) ist für ein faires Verfahren und die Suche nach der materiellen Gerechtigkeit von allerhöchster Bedeutung. Die Bedeutung des rechtlichen Gehörs in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Im Rahmen von Nichtzulassungsbeschwerden und Revisionen (§§ 543, 544 ZPO) nimmt der Bundesgerichtshof die Verletzung des Grundrechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs außerordentlich ernst. Obwohl die Annahmequote von Nichtzulassungsbeschwerden relativ gering ist (unter 20 %), werden Nichtzulassungsbeschwerden, mit denen die Verletzung rechtlichen Gehörs gerügt wird, häufig einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs zugeführt. Das Anhörungsrügengesetz hat mit Wirkung zum 01.01.2005 dem Bundesgerichtshof nach § 544 Abs. 7 ZPO die Möglichkeit eingeräumt, auf die in einer Nichtzulassungsbeschwerde erhobenen Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs das Berufungsurteil aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuweisen. Zahlreiche Entscheidungen verschiedener Senate des Bundesgerichtshofs (vgl. etwa BGH FamRZ 2005, 700) haben schon kurze Zeit nach Inkrafttreten der ZPO-Reform zum 01.01.2002 klargestellt, dass die Verletzung des Verfahrensgrundrechts einer Partei auf rechtliches Gehör nach Artikel 103 Abs. 1 GG Revisionszulassungsgrund ist (Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Man kann es erstaunlich finden, dass der Bundesgerichtshof immer wieder von der Möglichkeit einer Zurückverweisung nach § 544 Abs. 7 ZPO Gebrauch machen musste, weil das Instanzgericht seine Entscheidung auf einen Gesichtspunkt gestützt hat, den die betroffene Partei im Verfahren nicht berücksichtigen konnte. Die Vielzahl der Entscheidungen belegt: Die zentrale Hinweis- und Prozessförderungspflicht nach § 139 ZPO wird auch heute noch von vielen Richtern nicht ausreichend ernst genommen. Umfang der Prozessförderungspflicht Welche Verpflichtungen treffen den Richter nach dieser Vorschrift? Der Richter muss nach § 139 Abs. 1 ZPO den Sachverhalt und die Rechtsfragen offen und uneingeschränkt erörtern. Er hat darauf hinzuwirken, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle wesentlichen Tatsachen erklären. Ich habe es in 35-jähriger Tätigkeit bei den Instanzgerichten häufig erlebt: Richter äußern Zweifel an der Schlüssigkeit oder Erheblichkeit eines Vortrags. Sie haben Bedenken, ohne diese inhaltlich genau zu artikulieren. Gelegentlich ist zu hören, man habe dann schon noch Gelegenheit, die Auffassung des Gerichts in den Entscheidungsgründen zu lesen. Ein solches Verfahren ist unzulässig. Den Richter trifft nicht nur eine Hinweis - sondern auch eine Prozessförderungspflicht. Eine Partei darf darauf vertrauen, dass sie rechtzeitig den Hinweis erhält, was, warum und in welche Richtung eine Ergänzung des Vorbringens oder ein Beweisantritt für erforderlich gehalten wird. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass eine Partei durch Rechtsanwälte vertreten ist (BGH, NJW-RR 2007, 17). Die Hinweise müssen nicht nur vollständig und rechtzeitig erfolgen, sondern insbesondere genau erkennen lassen, welche Aufklärung, welchen Vortrag oder welche Beweisantritte das Gericht noch für erforderlich hält. Natürlich erfüllt ein solcher – inhaltlich klarer – richterlicher Hinweis seinen Zweck auch nur dann, wenn der Partei anschließend die Möglichkeit gegeben wird, ihren Sachvortrag unter Berücksichtigung des Hinweises zu ergänzen. Deshalb schreibt § 139 Abs. 4 ZPO vor: Hinweise sind nach dieser Vorschrift so früh wie möglich zu erteilen und aktenkundig zu machen sind. Das ist gerade mit Rücksicht auf die Veränderung der Struktur der Berufung durch das ab 01.01.2002 geltende Gesetz zur Reform des Zivilprozesses von großer Bedeutung. § 522 Abs. 2 ZPO gestattet bekanntlich dem Berufungsgericht, eine Berufung durch einstimmigen Beschluss unverzüglich zurückzuweisen, wenn es davon überzeugt ist, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung der einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordern. Diese Radikallösung, die der Gesetzgeber dem Berufungsgericht ermöglicht hat und von der in der Praxis gerne und viel Gebrauch gemacht wird, kann die Parteien besonders hart treffen, weil es gegen den Zurückweisungsbeschluss nach § 522 Abs. 3 kein Rechtsmittel gibt. Die – rechtspolitisch umstrittene – Regelung wurde vom Bundesverfassungsgericht als verfassungsmäßig gebilligt (BVerfG, NJW 2003, 281). Eine Prozesspartei, die regelmäßig mit einem solchen Verfahren rechnen muss, ist natürlich in besonderem Maß schon in der I. Instanz darauf angewiesen, dass der Richter seine Aufklärungspflicht und Prozessförderungspflicht vollständig und insbesondere auch rechtzeitig erfüllt. Das Erfordernis, die Hinweise nach § 139 Abs. 4 ZPO so früh wie möglich zu erteilen, sichert die Vorschrift dadurch ab, dass Hinweise nach § 139 Abs. 4 ZPO aktenkundig gemacht werden müssen. So früh wie möglich bedeutet: Ein Hinweis kann und muss bereits vor der mündlichen Verhandlung im Wege einer entsprechenden Verfügung des Richters erfolgen. Denn wenn er den Termin vorbereitet, kann er dem schriftsätzlichen Vortrags beider Parteien entnehmen, wo welche Ergänzungen erforderlich erscheinen. Hinweis erst in der mündlichen Verhandlung Allerdings wird man nicht ohne Weiteres davon ausgehen können, dass das rechtliche Gehör bereits dann verletzt ist, wenn der Hinweis – eigentlich zu spät - erst in der mündlichen Verhandlung erfolgt. Die Frage einer Verletzung des § 139 ZPO bzw. Artikel 103 Abs. 1 GG hängt dann vom weiteren Verfahren des Gerichts ab. Erfolgt der Hinweis spät, also etwa in der mündlichen Verhandlung (und damit später als eigentlich § 139 Abs. 4 ZPO vorsieht), dann muss das Gericht den Parteien Gelegenheit geben, auf diesen Hinweis ausführlich einzugehen. Soweit das Rückfragen der Partei erfordert, muss der Partei eine Schriftsatzfrist eingeräumt oder die mündliche Verhandlung wieder eröffnet werden (BGH FamRZ 2005, 700; NJW-RR 2007, 17). Damit können - und müssen - Überraschungsentscheidungen vermieden werden. Die Notwendigkeit der Erteilung entsprechende Hinweise gilt natürlich auch für die II. Instanz: Wenn das Rechtsmittelgericht von der Auffassung der Vorinstanz abweichen will, ist ein Hinweis erforderlich. Das gilt sogar dann, wenn sich aus dem Vorprozess eine bestimmte Rechtsauffassung des Rechtmittelgerichts erschließen lassen würde (BGH, Beschluss vom 15.03.2006 mit Anmerkung Nasall, jurisPR-BGHZivilR 33/2006, Anm. 2). Die Hinweispflicht in der Praxis In der Praxis wird gegen die Verpflichtung des Gerichts, rechtzeitige prozessfördernde Hinweise zu geben, immer wieder verstoßen. Nur deshalb gibt es eine solche Vielzahl von höchstrichterlichen Entscheidungen, die eine Verletzung des § 139 ZPO i. V. m. Artikel 103 Abs. 1 GG belegen. Ein neueres Beispiel aus meiner Praxis: Die Instanzgerichte lassen eine Aufrechnungserklärung des Beklagten gegenüber einer unstreitigen Klageforderung unberücksichtigt. Die Aufrechnungsforderungen übersteigen die Klageforderung. Der Hinweis des Gerichts lautet: „Es erscheint nicht sinnvoll, mit die Klageforderung übersteigenden Forderungen aufzurechnen.“ Was soll die Partei mit einem solchen „Hinweis“ anfangen? Sie verweist erneut auf die Reihenfolge, in der sie die Aufrechnung geltend gemacht hat. Der Hinweis des Gerichts ist inhaltlich falsch, weil die Partei die Reihenfolge der Aufrechnungsforderung vorschreiben kann (§ 396 Abs. 1 S. 1 BGB). Ist keine Reihenfolge vorgegeben, ergäbe sich diese aus § 396 Abs. 1 Ziff. 2 i. V. m. § 366 BGB. Der Hinweis ist aber abgesehen von der inhaltlichen Unrichtigkeit auch unverständlich. Er artikuliert die tatsächlichen Bedenken des Richters nicht in nachvollziehbarer Weise. Der Richter hatte dazu in der Gerichtsakte vermerkt: „Bis zu welcher Höhe?“ Damit hat der Richter – aber eben nur für das Gericht in der Akte – festgehalten, der Beklagte solle angeben, bis zu welcher Höhe die letzte zur Aufrechnung gestellte Forderung verbraucht wird, wenn der Restbetrag die Klageforderung übersteigt. Auch das ist unrichtig. Auf eine solche Angabe kommt es nicht an. Die (teilweise) Tilgung der Aufrechnungsforderung bis zur Höhe der Klageforderung ergibt sich automatisch bei Prüfung der Gegenforderungen in der maßgeblichen Reihenfolge. Bezeichnend ist aber die Divergenz zwischen der Aussage in der „aktenkundigen“ Notiz und dem Hinweis, der den Parteien gegeben wurde: In der Akte vermerkt der Richter seine Bedenken konkret und nachvollziehbar (wenngleich unrichtig), aus dem erteilten Hinweis lassen sie sich letztlich nicht erschließen. Dieses Beispiel, das für viele stehen mag, zeigt: Noch immer haben Richter oft Schwierigkeiten, ihre Bedenken uneingeschränkt und offen zu artikulieren und damit – was geboten ist – den Prozessparteien auf gleicher Augenhöhe zu begegnen (vgl. Reinelt ZAP Sonderheft für Dr. Egon Schneider zum 75. Geburtstag 2002, S. 52 „Irrationales Recht“ VII „Die Richterherrschaft“). Kein Wunder, dass es bei dieser Abwehrhaltung Versuche gegeben hat, die Dokumentationspflicht des § 139 Abs. 4 und 5 ZPO (Hessische Gesetzesinitiative) auszuhebeln und sich damit wiederum weiter von einem fairen Verfahren zu entfernen, ein Versuch, der erfreulicherweise gescheitert ist (hierzu der Grandseigneur des Zivilprozessrechts Egon Schneider, Praxis der Neuen ZPO Teil I, Rd.-Nr.: 184). Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof |