BrBp, Heft 2 2003, Seite 44

Vertrauensschutz bei Änderung der Rechtsprechung

RA Dr. Ekkehart Reinelt, München

In verschiedenen höchstrichterlichen Entscheidungen setzen die Zivilgerichte neuerdings eine Tradition des Bundesverfassungsgerichts fort, nämlich bei der Wirkung getroffener Entscheidungen im Bezug auf dort angesprochene Rechtsfragen zu differenzieren. Es soll eine bestimmte Rechtsfrage bis zum Bekanntwerden einer Entscheidung anders zu beurteilen sein als danach.

Dazu ein Beispiel: Wer in eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts eintritt, haftet (als Konsequenz des Neuverständnisses einer Teilrechtsfähigkeit der BGB-Gesellschaft) auch für die Altverbindlichkeiten. Das gilt aber aus Gründen des Vertrauensschutzes - so der BGH - erst ab April 2003, obwohl die Rechtslage sich nicht geändert hat1.

Die skurrile Entscheidungspraxis, wonach eine unterschiedliche Rechtslage vor und nach Bekanntwerden einer Entscheidung bestehen soll, hat jetzt auch das Baurecht erreicht. Hier judiziert der BGH2:

"Eine Vertragsstrafenklausel in einem Bauvertrag stellt nur dann keine unangemessene Benachteiligung dar und ist nur dann in AGB wirksam, wenn sie eine Höchstgrenze von 5 % Auftragssumme nicht überschreitet."

Allerdings: Nachdem in früheren Entscheidungen AGB-Klauseln mit höheren Vertragsstrafen als wirksam angesehen worden waren (nämlich bis zu 10%) 3, führt das Gericht weiter aus:

"Für vor dem Bekanntwerden dieser Entscheidung geschlossene Verträge mit einer Auftragssumme von bis zu ca. 13 Mio. DM besteht grundsätzlich Vertrauensschutz hinsichtlich der Zulässigkeit einer Obergrenze von bis zu 10%."

Und weiter: "Der Verwender kann sich jedoch nicht auf Vertrauensschutz berufen, wenn die Auftragssumme den Betrag von 13 Mio. DM um mehr als das Doppelte übersteigt."

Eine schlüssige Begründung über die Differenzierung bei höheren und niedrigeren Auftragssummen findet sich in der Entscheidung nicht. Warum gerade die angegebenen Summen? Was gilt bei Vertragssummen zwischen DM 13 Mio und DM 25 Mio?

Woraus ergibt sich eigentlich, das Gerichte dazu befugt sein sollen, solche partiellen Rechtsanwendungsverdikte mit Differenzierung - nach Zeitabschnitten - zu erlassen? Der Richter ist nicht Gesetzgeber. Er soll Gesetz und Recht im einzelnen Fall erkennen und anwenden (Art. 20 Abs. 3 GG). Die Deklaration, eine bestimmte Rechtsauffassung gelte bis zu einem bestimmten Zeitpunkt und dann nicht mehr, überschreitet diese Grenzen.

Jedoch ist der Gedanke verständlich, dass der Rechtsunterworfene in bestimmten Fällen Vertrauensschutz genießen muss4. Unter gewissen Voraussetzungen gebieten es Vertrauensschutz und Gerechtigkeit, dass materiellrechtliche oder prozessuale Dispositionen einer Partei nicht durch radikale nachträgliche Änderung der Rechtsprechung verändert werden. Die uneingeschränkte Rückwirkung geänderter Rechtsprechung kann ähnlich in subjektive Rechte eingreifen wie rückwirkende gesetzliche Regelungen, beispielsweise im Steuerrecht.

Zwar hat ein Gericht selbstverständlich nur einen einzelnen Fall zu entscheiden. Die fatale Rückwirkungsproblematik geänderter Rechtsprechung resultiert jedoch aus folgendem Problem: Angesichts des in der deutschen Rechtsprechung herrschenden Präjudizienkults und der Autoritätsgläubigkeit der Instanzgerichte wird eine geänderte Rechtsprechung des BGH unbesehen auf alle anderen Fälle übertragen, auch wenn juristische Vertragswerke seinerzeit im Vertrauen auf die damals gültige Rechtsprechung konzipiert worden sind. Eine so wirkende uneingeschränkte Rückwirkung geänderter Rechtsprechung greift tief in subjektive Rechte ein, auf deren Bestand man früher vertrauen konnte. Hier muss es in gewissem Umfang tatsächlich Vertrauensschutz geben.

Nur: Wann wird dieser Vertrauensschutz gewährt? Wann wird er versagt? Jedes Mal wenn die Rechtsprechung radikal gegenüber früheren Regelungen geändert wird, können Dispositionen von Parteien, die im Vertrauen auf die Fortgeltung früherer Rechtsprechung getroffen worden sind, in Frage gestellt werden.

Ein Beispiel hierfür ist die plötzliche Kehrtwendung der Rechtsprechung in Bezug auf die Wirksamkeit von Vollstreckungsunterwerfungserklärungen. Nach neuerer Rechtsprechung sind Vollstreckungsunterwerfungen, wie sie üblicherweise durch Jahrzehnte von Notaren nach § 794 Abs. 1 Ziff. 5 ZPO verwendet wurden, unwirksam. Soweit der Nachweis einer Fälligkeit für Herausgabe der vollstreckbaren Ausfertigung nicht notwendig ist, ist die Vollstreckungsunterwerfung nach neuer Auffassung des BGH unwirksam, weil sie gegen das AGB-Gesetz (nunmehr §§ 307, 308 BGB n. F.) verstößt5. Damit ist die gesamte bisherige Notariatspraxis bei Bauträgerverkäufen, die jahrzehntelang gegolten hat, plötzlich durch die Rechtsprechung für rechtswidrig erklärt worden. Rückwirkend führt das zur Situation, dass die durch eine unwirksame Vollstreckungsunterwerfungsklausel nicht gesicherten Kaufpreisansprüche materiellrechtlich innerhalb der kurzen Verjährungsfrist des alten § 196 BGB (2 oder 4 Jahre), bzw. nach dem neuen Recht in drei Jahren (§ 195 BGB n. F.) verjährt sind. Mit dem Eintritt der Verjährung konnte der aus der Vollstreckungsunterwerfung Berechtigte zum Zeitpunkt des Verjährungseintritts jedoch nicht rechnen, weil er aufgrund der seinerzeitigen Rechtslage auf die Wirksamkeit der Vollstreckungsunterwerfung und damit eine dreißigjährige Verjährung vertrauen durfte. Ein gravierender, für die Rechtsunterworfenen unerträglicher rückwirkender Eingriff in abgeschlossene Sachverhalte mit wirksam geschaffenen rechtlichen Regelungen, die nach seinerzeit geltender Rechtslage mit einer gültigen Vollstreckungsunterwerfungsklausel versehen waren! Soll es hier keinen Vertrauensschutz geben?

Ein weiteres Beispiel für die Bedenklichkeit des Eingriffs geänderter Rechtsprechung in abgeschlossene Sachverhalte bietet die neue Rechtsprechung des BGH zur Unwirksamkeit von Treuhandverträgen wegen Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgesetz6. Hier sind jahrzehntelang mit tausenden von Verträgen Investitionen in Höhe von dreistelligen Milliardenbeträgen in Euro getätigt worden, die nunmehr plötzlich aufgrund der geänderten Rechtsprechung möglicherweise in der Luft hängen (auch wenn hier teilweise die Grundsätze der faktischen Gesellschaft zur Anwendung kommen, vgl. BGH DB 2003, 268).

Im Zusammenhang mit einer der Entscheidungen zur Unwirksamkeit von Treuhandverträgen wegen Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgesetz und der möglichen Rückwirkung der Entscheidung führt der Bundesgerichtshof jedoch aus7:

"Allerdings greift die mit Urteil des 9. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs eingeleitete Änderung der höchstrichterlichen Rechtssprechung zum Bauträgermodell, die-soweit ersichtlich- bis dahin keine Bedenken gegen den Abschlussgesonderter Geschäftsbesorgungsverträge mit einem Treuhänder ... unter dem Gesichtspunkt des Rechtsberatungsgesetzes erhoben hatte, rückwirkend tief in weithin abgeschlossene Vorgänge ein. Eine solche Rückwirkung ist aber beigerichtlichen Urteilen grundsätzlich hinzunehmen. Der Schutz des Vertrauens einer Partei auf die Fortdauer der bisherigen Rechtssprechung kann im Einzelfall zwar eine abweichende Beurteilung gebieten8... Das ... wird erst bei einer Rückabwicklung der Verträge zu erwägen sein."

Wann soll eine Rückwirkung "hingenommen" werden und wann nicht? Warum soll eine Rückwirkung ausgerechnet in den genannten Fällen, in denen Tausende von Verträgen und Milliarden von Investitionen in Euro in den vergangenen Jahrzehnten betroffen sind, uneingeschränkt gelten? Warum wird die Rückwirkung nach der Auffassung des BGH ausgerechnet gerade bei der Frage der Höhe der Vertragsstrafenvereinbarung eingeschränkt? Warum gibt es uneingeschränkten Vertrauensschutz bei Eintritt in eine BGB-Gesellschaft vor April 2003? Wann muss der Rechtsunterworfene, der im Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage Dispositionen getroffen hat, befürchten, dass eine spätere Änderung der Rechtsprechung in längst abgeschlossene Fälle und wirtschaftliche Dispositionen, unter Umständen mit katastrophalen Konsequenzen, eingreift und wann nicht? Ein Konvolut ungelöster Fragen!

Bislang hat man den Eindruck, dass die Rechtsprechung das von Fall zu Fall je nach Gusto so oder so entscheidet. Kriterien dafür, wann, in welchem Umfang und warum eine radikale Änderung der Rechtssprechung in rückwirkend abgeschlossene Sachverhalte eingreifen soll und wann nicht, oder nur teilweise, sind bislang nicht zu erkennen.

Warum gerade in der baurechtlichen Entscheidung9 in Bezug auf die Höhe der Vertragsstrafe Vertrauensschutz gewährt werden soll (und warum gerade im vom BGH festgelegten Umfang), nicht jedoch bei der neuen Rechtsprechung zur Unwirksamkeit der Vollstreckungsunterwerfung und beim angeblichen Verstoß von Treuhandtätigkeiten gegen das Rechtsberatungsgesetz, ist nicht recht verständlich. Der Auftraggeber hat bei einer möglicherweise unwirksamen Vertragsstrafenvereinbarung immer noch Schadensersatzansprüche. Die Initiatoren und Anleger von Kapitalanlagemodellen, die in dreistelligen Milliardenbeträgen Objekte realisiert haben, sollten ebenso wie die finanzierenden Banken in Bezug auf die Rechtsbeständigkeit der seinerzeit wirksam entwickelten Projekte höheren Vertrauensschutz genießen10. Ähnliches gilt für die rückwirkende Änderung der Rechtsprechung zur Vollstreckungsunterwerfung, die eine gravierende Problematik rückwirkend verkürzter Verjährungseintritte mit sich bringt.

Leider weiß man heute bei gerichtlichen Entscheidungen ex ante ohnehin nicht, was herauskommen wird. Die konfuse Rechtssprechung mit ihrer Bejahung oder Verneinung der Rückwirkung einer radikalen Änderung der Rechtsauffassung leistet einen weiteren Beitrag zur Verunsicherung im Recht.

Die Rechtssicherheit gebietet, dass der Gesetzgeber oder auch die Rechtssprechung durch Erarbeitung klarer Kriterien für die Zulässigkeit des Eingriffs geänderter Rechtssprechung in abgeschlossene Sachverhalte Klarheit schaffen!

Ebenso wie bei gesetzlichen Änderungen, die zurückwirken, wird man in Anlehnung an die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts unterscheiden müssen zwischen echter und unechter Rückwirkung11.

Hier gilt als Faustregel: Eine echte Rückwirkung, die nachträglich in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift, ist grundsätzlich unzulässig12. Daran wird sich auch die Änderung bislang etablierter Rechtsprechung zu orientieren haben, die nicht unbesehen und uneingeschränkt rückwirkend in abgeschlossene Sachverhalte eingreifen darf.

1 BGH BB 2003, 1081 = NJW 2003, 1803
2 Urteil vom 23.01.2003; BauR 2003, 870 = NJW 2003, 1805
3 BGH BauR 1987, 92, 98
4 vgl. hierzu auch Reinelt: "Richterliche Unabhängigkeit und Vertrauensschutz"; ZAP 2000 Fach 13, Seite 969
5 BGH NJW 1999,51
6 z.B. BGHZ 145, 265; BGH BB 2001, 2497; vgl. auch Reinelt; Treuhandschaft und Rechtsberatung"; ZAP Kolumne 2002, 315
7 BGH BB 2001, 2497, 2498
8 vgl. BGHZ 132, 119, 129 ff.
9 BauR 2003, 870
10 vgl. auch Reinelt; Treuhandschaft und Rechtsberatung"; ZAP-Kolumne 2002, 315
11 vgl. BVerfGE 72; 200/42, BVerfGE 97, 67/68
12 vgl. Mellinghoff, Rückwirkung von Steuergesetzen, BWS Schriftenreihe Nr. 1, 2002