BB 1974, 1145

Schadensersatzanspruch des Alleingesellschafters
und "Durchgriffshaftung" bei der Einmanngesellschaft

Von Rechtsanwalt Dr. Ekkehart Reinelt, München

I.

In der Entscheidung des BGH vom 13.11.1973 ging es um die Frage, ob der Alleingesellschafter einer (Komplementär-) GmbH (zugleich Kommanditist der GmbH & Co. KG und Geschäftsführer der Komplementär-GmbH) einen Schadensersatzanspruch gegen einen Dritten geltend machen konnte, obwohl der Schaden bei der GmbH eingetreten war. Der BGH hat die Frage für den zu entscheidenden Fall bejaht. Bei der Einmann-GmbH stelle das Vermögen der Gesellschaft nur ein Sondervermögen des Alleingesellschafters dar, so daß es nach Lage des Falles so angesehen werden könne, als habe der Schaden den Gesellschafter getroffen. In der Literatur ist die Entscheidung auf Widerspruch gestoßen.

Die Fallgestaltung, die der Entscheidung des BGH zugrunde liegt, ist die genaue Umkehrung der Sachverhalte, bei denen es um die Frage der Durchgriffshaftung des Alleingesellschafters geht. Die Entscheidung des BGH steht daher in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Problem der Durchgriffshaftung.

II.

1. Unter welchen Voraussetzungen der Alleingesellschafter einer Gesellschaft für deren Verbindlichkeiten haftet, hat die Rechtsprechung des öfteren beschäftigt. Die generalklauselartigen Formen, die in ständiger Rechtsprechung des BGH und des R G immer wieder auftauchen, besagen alles und nichts. Der Durchgriff ist möglich, wenn die "Wirklichkeiten des Lebens", "die Macht der Tatsachen" und "die wirtschaftlichen Bedürfnisse" dies erfordern. Zur Freude findiger Geschäftemacher und zum Leidwesen geprellter Gläubiger lassen die "Wirklichkeiten des Lebens" und "die Macht der Tatsachen" in der bisherigen Rechtsprechung nur selten einen Durchgriff zu. Es dürfe nämlich - so die Rechtsprechung - über die Rechtsfigur einer juristischen Person nicht "leichtfertig" und "schrankenlos" hinweggegangen werden, die rechtliche Verschiedenheit von Gesellschaft und Alleingesellschafter dürfe nur bei "Mißbrauch" oder völlig unerträglichem Verstoß gegen Treu und Glauben mißachtet werden. Es sei zu prüfen, ob die Beschränkung der Haftung auf das Gesellschaftsvermögen noch dem Zweck der Rechtsordnung entspreche. Dieses Instrumentarium an austauschbaren Leerformeln ermöglicht es, in jedem Einzelfall unvorhersehbar und unberechenbar, als willkürlich, den Durchgriff zu bejahen oder zu verneinen und das Ergebnis entweder mit der "Macht der Tatsachen" und den "wirtschaftlichen Bedürfnissen" oder aber mit der rechtlichen Verselbständigung von Gesellschaft und Gesellschafter scheinbar zu rechtfertigen, wobei man je nach dem gewünschten Ergebnis dem einen oder anderen Gesichtspunkt das entscheidende Gewicht beimißt. In der Literatur fehlt es nicht an Versuchen, durch Bildung von Fallgruppen oder klareren Begriffen eine wenigstens einigermaßen rechtssichere Beurteilung zu ermöglichen. Auf die Rechtsprechung blieb dies ohne nachhaltigen Einfluß. Umgekehrt waren auch die Bemühungen des Schrifttums, die Einzelfallentscheidungen in ein theoretisch fundiertes System einzuordnen, vergeblich. Weil die Kriterien des Haftungsdurchgriffs vage und unklar sind, ist eine rechtssichere Beurteilung der hiermit zusammenhängenden Fragen derzeit nicht möglich.

Obwohl klar ist, daß die Durchgriffsproblematik nicht mit abstrakten Formen allgemein gültig lösbar ist, scheint es daher nötig, eine Präzisierung der bislang verwendeten Generalklauseln zu überdenken. Ein gewisses Maß an Rechtssicherheit ließe sich jedenfalls dann gewinnen, wenn eine feste Rangordnung der Argumente für bzw. gegen die Durchgriffshaftung aufgestellt werden könnte, die ein beliebiges Austauschen der gegensätzlichen Topoi (hier: juristische Konstruktion; da: wirtschaftliche Bedürfnisse) verbietet.

2. Hier erweist sich die Entscheidung des BGH von erheblicher Tragweite: Zumindest für Schadensersatzansprüche des Alleingesellschafters stellt das Gericht die wirtschaftliche Verflechtung zweier Vermögensmassen über deren juristische Trennung.

a) Der BGH geht im Hinblick auf die wirtschaftliche Identität von Gesellschaft und Gesellschafter davon aus, daß dem Alleingesellschafter und Geschäftsführer einer Komplementär-GmbH gegen einen Dritten ein Schadensersatzanspruch auch dann zustehen kann, wenn der Schaden "am Sondervermögen" der GmbH oder gar der KG (deren Kommanditist wiederum der Geschäftsführer der GmbH war) eintritt. Die Einmann-Gesellschaft sei haftungsrechtlich nur ein besonderer Teil des Vermögens des Alleingesellschafter, der Schadenseintritt bei der Gesellschaft könne daher letztlich ein persönlicher Schaden des Alleingesellschafters sein. Diese Erkenntnis ist wirtschaftlich m. E. unbestreitbar richtig. Der BGH hat aus der wirtschaftlichen Realität die rechtliche Konsequenz gezogen.

Wenn man aus dieser Entscheidung nicht die entsprechenden Konsequenzen für das Problem der Durchgriffshaftung ziehen wollte, würde folgendes gelten: Dem Alleingesellschafter, der sich zur Beschränkung seiner Haftung hinter dem Mantel der juristischen Person oder der GmbH & Co. KG versteckt, würde schlechthin großzügig aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtung zwischen juristischer Person (bzw. GmbH & Co. KG) und Gesellschafter trotz eigentlich fehlenden Schadens in der Person des Gesellschafters selbst ein Schadensersatzanspruch zugesprochen, weil - so der BGH - ein anderes Ergebnis an einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise vorbeigehen würde. Das gleiche Argument - nämlich die wirtschaftliche Identität -, das dem Gesellschafter bei der aktiven Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen zur Hilfe kommt, würde dem Gläubiger wegen der rechtlichen Verselbständigung von Gesellschaft und Gesellschafter in aller Regel nichts nützen. Das hieße: Geht es um Ansprüche gegen den Alleingesellschafter einer juristischen Person oder den Hintermann einer GmbH & Co. KG, könnte dieser sich im Prinzip (bis auf ganz krasse Ausnahmen) erfolgreich hinter einer juristischen Konstruktion verschanzen. Will er selbst Ansprüche geltend machen, könnte er sich auf die BGH - Rechtsprechung und die wirtschaftliche Identität mit der Gesellschaft berufen und Schadensersatzansprüche durchsetzen, wenn der Schaden nur am Vermögen der GmbH bzw. der GmbH & Co. KG eingetreten ist.

b) Die Aktivlegitimation des Alleingesellschafters bei der Geltendmachung von Ansprüchen gegen Dritte (wenn der Schaden bei der Gesellschaft eingetreten ist) ist der kontradiktorische Gegensatz der Passivlegitimation des Alleingesellschafters bei der Haftung für Verbindlichkeiten, die an sich die Gesellschaft treffen. Man kann folglich in diesen Fällen ohne Verletzung logischer Gesetze nicht mit zweierlei Maß messen. Entweder genießt das Prinzip der juristischen Verselbständigung oder dasjenige der wirtschaftlichen Verflechtung schlechthin Prävalenz, gleich ob es um Ansprüche für oder gegen den Alleingesellschafter geht. Der Gesichtspunkt, dem der generelle Vorzug zu geben ist, muß bei Ansprüchen für und gegen den Alleingesellschafter an erster Stelle rangieren. Andernfalls ist der Rechtsunsicherheit und der Willkür Tür und Tor geöffnet und jede beliebige Entscheidung kann unter Hervorhebung des einen oder anderen Grundsatzes scheinbar gerechtfertigt werden.

3. Hätte der BGH sich für eine generelle Prävalenz der juristischen Konstruktion entschieden, so hätte er dem Alleingesellschafter einen Schadensersatzanspruch allenfalls im Wege der Drittschadensliquidation zusprechen können.

Das Gericht hat aber gerade betont, daß - wenn der Schaden bei der GmbH (oder der GmbH & Co. KG) eingetreten ist - kein Fall der Drittschadensliquidation vorliege. Es hat also die rechtliche Verselbständigung zwischen Alleingesellschafter und Gesellschaft außer acht gelassen.

Ich meine, daß der BGH mit der - im einschränkenden Sinn zu interpretierenden Entscheidung - den richtigen Weg gegangen ist, wenn die "wirtschaftliche Wirklichkeit" über die "juristische Konstruktion" stellt. Das folgt allerdings nicht bereits daraus, daß etwa wirtschaftliche Erwägungen sozusagen durch die normative Kraft des Faktischen rechtliche Argumente verdrängen könnten, sondern aus der rechtlichen wie wirtschaftlichen Fragwürdigkeit der Einmanngesellschaft. Es gibt schlechthin keine unter allen Umständen schützenswerten Interessen an der Erhaltung von Einmann-GmbH's, die die Schutzinteressen von Gläubigern, die mit der juristischen Personen kontrahieren, überwiegen. Konsequenz der Entscheidung des BGH muß daher eine Erweiterung der Durchgriffshaftung sein.

4. Abgesehen von dem (selbstverständlichen und daher nicht näher zu erörternden) Fall des Rechtsmißbrauchs bei Berufung auf die rechtliche Verschiedenheit lassen sich zwei Fallgruppen unterscheiden, bei denen die Gläubiger mit Durchgriffshaftung auf den Alleingesellschafter zu schützen sind, nämlich die Fälle einer Billigkeits- und einer Vertrauenshaftung.

a) Ein Durchgriff auf den Alleingesellschafter einer juristischen Person (bzw. den Alleininhaber einer GmbH & Co. KG) muß im Interesse der Gläubiger dann möglich sein, wenn die Gesellschaft als bloße Fiktion erscheint, also nicht als reales, wirtschaftlich selbständiges, lebensfähiges Substrat existiert. In solchen Fällen ist die Berufung auf die rechtliche Trennung unbillig.

Nach der h. M. ist die juristische Person ein "reale Verbandsperson" jedenfalls eine "soziologische Realität", die real und selbständig neben dem Alleingesellschafter existiert. Wenn man die juristische Person so begreift, folgt daraus zugleich, daß sie (wenn überhaupt) real nur existieren kann, wo mehr vorhanden ist als die bloße rechtliche Fiktion ihres Vorhandenseins, wo sie also tatsächlich - und das heißt auch wirtschaftlich lebensfähig - verselbständigt ist und nicht einen Schutzschild für eine dahinterstehende natürliche (oder wiederum juristische) Person bieten soll. Gerade wenn man die juristische Person nicht als Fiktion, sondern als Realität begreift, ist es nur dann "leichtfertig", d. h. unzulässig, sie "beiseitezuschieben", wenn sie eine reale, also auch wirtschaftlich selbständige Fundierung hat.

Mit Recht hat deshalb R e i n h a r d t ausgeführt, daß ein Durchgriff dort möglich sein müsse, wo die Gestaltung der juristischen Person mit Ordnungsgrundsätzen unserer Wirtschaft nicht vereinbar sei, nämlich dann, wenn Unternehmerrisiko, Eigenkapital und Art und Größe, wie Wirtschaftsgebaren der Gesellschaft, nicht in vernünftigem Verhältnis zueinander stünden. Da das Recht die juristische Konstruktion nicht als Eigenzweck schützen kann, sondern nur dann, wenn ihr tatsächlich ein real existierendes wirtschaftlich selbständiges Unternehmen zugrunde liegt, muß der Durchgriff - ohne daß er einer weiteren Rechtfertigung durch subjektive Merkmale bedürfte - dort zulässig sein, wo die wirtschaftliche Substanz des Unternehmens erkennbar unzureichend war. Bei der Einmann-GmbH bzw. der "Einmann-GmbH & Co. KG", die wirtschaftlich mit dem Alleingesellschafter identisch ist, ist besondere Vorsicht geboten: Der zunehmende Mißbrauch, der mit diesen Konstruktionen betrieben wird, zeigt, daß sich häufig ein legitimes Interesse der Gläubiger am Durchgriff auf die dahinterstehende Person bejahen läßt, und zwar auch dann, wenn bei enger wirtschaftlicher Verflechtung der Vermögensmassen eine subjektive Benachteiligungsabsicht und damit ein Rechtsmißbrauch nicht nachzuweisen ist. Die Rechtsprechung sollte hier im Hinblick auf die in der Entscheidung des BGH vom 13.11.1973 richtig erkannte Prävalenz der wirtschaftlichen Verflechtung gegenüber der ohnedies fragwürdigen juristischen Konstruktion aus Billigkeitsgründen die Möglichkeit einer Durchgriffshaftung erweitern und einen Durchgriff immer dann zulassen, wenn sie umgekehrt dem Alleingesellschafter auch einen Schadensersatzanspruch zubilligen würde, obwohl der Schaden an sich am "Sondervermögen" der Gesellschaft eintritt. Ein Schadensersatzanspruch ist im Sinne der BGH - Entscheidung dann gerechtfertigt, wenn eine besonders enge Verflechtung zwischen Vermögen des Alleingesellschafters und Vermögen der GmbH besteht. Kriterium für die Zulässigkeit eines Durchgriffs wäre in der Konsequenz im Falle der Billigkeitshaftung nur die enge wirtschaftliche Verflechtung zwischen Alleingesellschafter und Gesellschaft, die es ausschließt, die Gesellschaft allein noch als wirtschaftlich selbständige Realität anzusehen. Eine Vermutung für eine solche Verflechtung besteht etwa dann, wenn die Mittel der Gesellschaft in erkennbarem Mißverhältnis zu ihren satzungsmäßigen Aufgaben oder ihrem Geschäftsumfang stehen, oder wenn der Alleingesellschafter die Vermögensmassen nicht strikt auseinanderhält, erhebliche Gewinne einer schwachen Gesellschaft entnimmt, die Gesellschaft vermögenslos ist, oder Gläubiger durch Vermögensverschiebungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter objektiv benachteiligt werden.

b) Nach dem Grundsatz der Vertrauenshaftung ist ein Durchgriff zulässig, wenn (unabhängig von den Voraussetzungen der Billigkeitshaftung aufgrund wirtschaftlicher Verflechtungen) der Hintermann konkret gegenüber einem Gläubiger oder allgemein gegenüber Dritten die Erwartung weckt oder nährt, er werde für Verbindlichkeiten der Gesellschaft geradestehen (ohne daß hierin im rechtlichen Sinn eine Schuldmitübernahme liegt). Dieser Eindruck wird häufig dann erweckt, wenn die Gesellschaft die Firma eines früheren Einzelhandelsgeschäftes unverändert fortführt und im Geschäftsverkehr die zwischenzeitliche Veränderung der Rechtsform, also die Fortführung durch eine GmbH & Co. KG nicht ersichtlich macht.

III.

Wird die Gleichstellung der Vermögensmassen von GmbH (oder sonstiger jur. Person) und Alleingesellschafter aufgrund der genannten Voraussetzungen bejaht, so gilt dies notwendig gleichermaßen zu seinen Gunsten und Lasten. Sein Vermögen ist als "Sondervermögen" der GmbH zu betrachten. Die Stellung des Alleingesellschafters der GmbH gleicht dann derjenigen des Komplementärs bei der KG. Auch dort haftet ein "Sondervermögen" des persönlich haftenden Gesellschafters für Gesellschaftsschulden. Die Folge der Bejahung der Durchgriffsvoraussetzungen bei der GmbH ist daher eine analoge Anwendung der §§ 128, 129 HGB. Beider Einmann-GmbH als Komplementärin der "Einmann-GmbH und & Co. KG" kann es auf diese Weise zu einer doppelten, nämlich einer analogen und einer direkten, Anwendung der genannten Vorschriften kommen. Durchgriffshaftung ist also keine subsidiäre, sondern kumulative Haftung.

Zur Zwangsvollstreckung gegen den Alleingesellschafter ist ein gegen ihn gerichteter Titel erforderlich. Ein gegen die Gesellschaft ergangenes Urteil muß sich der Hintermann entgegenhalten lassen und kann nur noch die der Gesellschaft selbst (z. B. nach § 767 Abs. 2 ZPO) und die ihm persönlich zustehenden Einwendungen erheben.

Ergebnis: Im Hinblick auf die Entscheidung des BGH vom 13.11.1973 sind die Voraussetzungen der Durchgriffshaftung zu erweitern. Abgesehen von den selbstverständlichen (über § 826 BGB zu lösenden) Fällen der Durchgriffshaftung bei Rechtsmißbrauch sind zu unterscheiden die Fälle der Billigkeitshaftung (besonders enge Verflechtung der Vermögensmassen von Gesellschafter und Alleingesellschaft) und der Vertrauenshaftung (Verhalten der Gesellschaft oder des Hintermannes, aufgrund dessen die Gläubiger verständigerweise auf eine Mithaftung des Hintermannes vertrauen). Wird der Durchgriff bejaht, so steht der Hintermann einem Komplementär bei der KG gleich und haftet damit neben der juristischen Person wie ein persönlich haftender Gesellschafter.