BauR 12/2016, Seite 2000

Instanzübergreifend vorgehen – warum es sinnvoll ist, schon im Berufungsverfahren an die dritte Instanz zu denken*

 Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof
 Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht

Die Aufgabe von BGH-Anwälten besteht darin, Berufungsurteile auf Schwachstellen zu untersuchen, um beurteilen zu können, ob sie einer Überprüfung durch den BGH standhalten können. Dabei wird regelmäßig deutlich: Die Erfolgsaussichten für die 3. Instanz lassen sich verbessern, wenn der in der Berufung tätige Rechtsanwalt sich auch um gelegentlich stiefmütterlich behandelte Themen kümmert. Was sind diese Themen?

I.
Vorbemerkung

Für den Instanzanwalt ist es nicht ohne Weiteres selbstverständlich, instanzübergreifend zu denken. Insbesondere bei dem Übergang von der 2. in die 3. Instanz gibt es hierfür Gründe:

  1. Das Nichtzulassungsbeschwerde- und Revisionsverfahren erscheint aus der Sicht der Instanz fremd.

  2. Für die unterlegene Partei ist es einfacher und übersichtlicher von der ersten in die zweite Instanz zu kommen, ein Wechsel des Prozessbevollmächtigten findet im Allgemeinen seit der Aufgabe der Zulassungsbeschränkungen nicht mehr statt. Die gesetzlichen Zugangshürden zur Berufung sind niedriger als die zur dritten Instanz (vgl. §§ 511, 543 ZPO).

  3. Während bei den beiden ersten Instanzen die Parteiinteressen unangefochten im Vordergrund stehen, rückt bei dem Zugang zur Revision auch das Allgemeininteresse in den Vordergrund. Der BGH kümmert sich zusätzlich um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und die Fortbildung des Rechts. Diese Materie ist ungewohnt.

  4. Umso wichtiger ist es, die mögliche dritte Instanz stets und möglichst frühzeitig schon in der Berufung in den Blick zu nehmen.

Ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist die Art und Weise, wie der Berufungsprozess geführt worden ist.

 

II.
Übersicht über wesentliche Gesichtspunkte

Die Gesichtspunkte, die zu beachten sind, werden zunächst kurz zusammengefasst und dann im Einzelnen erörtert.

  1. Es ist zu empfehlen, den Versuch zu unternehmen, dass das Berufungsgericht davon überzeugt wird, die Revision zuzulassen.

  2. Wegen der Bedeutung des vom Berufungsgericht festgesetzten Streitwerts für die Wertgrenze des § 26 Nr. 8 EGZPO – Statthaftigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde – muss das Thema des Streitwerts und damit unter Umständen der Beschwer im Berufungsrechtszug sorgfältig behandelt werden.

  3. Es empfiehlt sich, umfassend Tatbestandsberichtigungsanträge zu stellen.

  4. Mögliche Verfahrensfehler der Instanzgerichte, insbesondere der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) müssen rechtzeitig vor das Berufungsgericht gebracht werden, um damit nicht beim BGH auf Granit zu beißen (Grundsatz der Subsidiarität). Dazu gehört die Aufforderung an das Gericht, angebotene Beweise vollständig zu erheben.

  5. Hinzuwirken ist auf vollständige richterliche Hinweise nach § 139 ZPO.

  6. Es ist wichtig, verfahrensrechtliche und materiellrechtliche Ausführungen in der zweiten Instanz zu bringen anhand der Rechtsprechung insbesondere des BGH-Senats, der im Fall des Falles zuständig sein würde.

  7. Vollstreckungsschutz ist beim BGH nur eingeschränkt möglich, deshalb muss bei der Berufung überlegt werden, welche Vollstreckungsschutzanträge gestellt werden.

  8. Der Umgang mit dem BGH-Anwalt und ggf. einer Rechtschutzversicherung ist zu bedenken.

 

III.
Vom Instanzanwalt instanzübergreifend zu beachtende Aspekte

1. Zulassung der Revision durch das Berufungsgericht

Das Berufungsgericht hat im Berufungsurteil darüber zu entscheiden, ob es die Revision zulässt oder nicht (§ 543 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Enthält das Berufungsurteil nichts, ist die Revision nicht zugelassen. Die Zulassung kann beschränkt oder unbeschränkt sein. Wenn sie auf Rechtsfragen beschränkt wird, ist die Beschränkung unwirksam. Es kann aber sein, dass die Rechtsfrage nur abteilbare Teile des Streitgegenstands betrifft. Dann beschränkt sich die Zulassung nur auf diese Teile.

Die Zulassung bereits im Berufungsurteil ist für die Partei ein großer Vorteil, weil sie die schwierige Schranke der Nichtzulassungsbeschwerde vermeidet. Leider ist die Nichtzulassung die Regel.1 Die Begründung im Berufungsurteil ist überwiegend floskelhaft. Das Berufungsgericht stellt meist lapidar fest, eine Zulassung sei nicht erforderlich. Es drängt sich der Eindruck auf als sei die Zulassung eine Art lästiger Nebenentscheid. Diese Praxis ist für die Partei nachteilig. Das Berufungsurteil muss sich mit dem Vortrag beider Parteien auseinandersetzen. Je präziser sich der BGH-Anwalt dann ohne semantische Verrenkung auf Vortrag der unterlegenen Partei in den Instanzen berufen kann, desto plausibler werden die Ausführungen zur Zulassung. Es ist deshalb von erheblicher Bedeutung, bereits vor der zu erwartenden Endentscheidung des Berufungsgerichts zur Grundsatzbedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne des § 543 Abs. 2 ZPO Ausführungen zu bringen. Von besonderer Bedeutung ist das im Berufungsverfahren insbesondere dann, wenn das Berufungsgericht beabsichtigt, nach § 522 ZPO vorzugehen. Dann müssen die Fragen der grundsätzlichen Bedeutung der Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung schon deshalb aufgegriffen werden, weil in diesen Fällen nicht nach § 522 Abs. 2 ZPO vorgegangen werden soll (vgl. § 522 Abs. 2 Ziff. 1 bis 3). Es ist immer wieder überraschend, wie häufig – gerade auch in Baustreitigkeiten – sogenannte einstimmige Beschlussentscheidungen der Berufungsgerichte vor dem BGH keinen Bestand haben und die Zulassung der Revision ausgesprochen wird, obwohl drei Richter des Berufungsgerichts mit dem Beschluss nicht nur die Richtigkeit der Entscheidung des Erstgerichts, sondern auch das Fehlen von Zulassungsgründen behauptet haben. Wenn diese für das Berufungsgericht auch peinliche Entwicklung schon im Berufungsverfahren deutlich herausgestellt wird, verbessern sich vielleicht die Chancen, von der beabsichtigten Entscheidung nach § 522 Abs. 2 ZPO abzusehen.

2. Zur Beschwer

Das Thema einer möglichen Beschwer über – jetzt noch – € 20.000,00, die Voraussetzung für die Statthaftigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 26 Nr. 8 EGZPO ist, muss unbedingt bereits im Berufungsverfahren erörtert werden. Ist der Streitwert vom Landgericht und vom Berufungsgericht entsprechend den Angaben der Parteien festgesetzt worden und wurde diese Festsetzung nicht beanstandet, kann man im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde grundsätzlich nicht mehr mit Einwänden gegen die Wertfestsetzung gehört werden .

Ob der Wert der Beschwer überschritten ist, ist leicht zu beurteilen, wenn die unterlegene Partei einen bezifferten Antrag gestellt hat. Unter Berücksichtigung des vom Berufungsgericht festgesetzten Streitwerts handelt es sich dann mehr oder weniger um eine Rechenaufgabe. Komplizierter liegt der Fall, wenn die Entscheidung des Berufungsgerichts über den Streitwert auf einer Ermessensentscheidung beruht, besonders relevant im Zusammenhang mit § 3 ZPO. So hat das Gericht beispielsweise bei dem Abzug für ein Feststellungsurteil (z.B. ein Zwischenfeststellungsurteil nach § 256 Abs. 2 ZPO) einen Ermessensspielraum für den Abschlag gegenüber der Zahlungsklage (meistens 20 %, gelegentlich aber auch 30 %). Wegen der Bedeutung des festgesetzten Streitwerts für die Wertgrenze des § 26 Nr. 8 EGZPO sollte dieses Thema im Berufungsrechtszug sorgfältig behandelt werden.2

Allerdings: Der Wert der Beschwer ist nicht in allen Fällen identisch mit dem für die Gebühren und Kosten maßgebenden Streitwert (Beispiel: Wert der Beschwer in Mietsachen der 3,5-fache Jahresbetrag der Miete nach § 9 ZPO; Streitwert für die Gebühren nach § 41 GKG der einjährige Mietzins).

Der Vortrag zu werterhöhenden Faktoren muss bereits in der Berufungsinstanz ausführlich und ggf. beweisbewehrt sein, das gilt insbesondere auch bei unbezifferten Anträgen wie Feststellungsanträgen. Nachlässigkeiten können schnell dazu führen, dass die Nichtzulassungsbeschwerde nicht statthaft ist. Der BGH hat die Tendenz, die Statthaftigkeit strikt zu prüfen, um sich der Fälle, in denen die Beschwer möglicherweise niedriger liegt, zu erwehren. Es empfiehlt sich deshalb mit Rücksicht auf die Vorschrift des § 26 Nr. 8 EGZPO, bereits im Berufungsverfahren eine zu befürchtende niedrigere Festsetzung des Streitwerts anzugreifen.

3. Zur Tatbestandsberichtigung

Die tatbestandlichen Feststellungen im Berufungsurteil sind die Feststellungen im Tatbestand und auch die Feststellungen, auf die im Berufungsurteil Bezug genommen wird. Eine Unrichtigkeit solcher tatbestandlichen Darstellungen im Berufungsurteil kann nur im Berichtigungsverfahren nach § 320 ZPO behoben werden3. Was nicht Gegenstand der Tatbestandberichtigung war, kann beim BGH nicht nachgeholt werden. Der BGH kann nur auf der Basis der tatsächlichen Feststellungen entscheiden (§ 559 ZPO). Bei Meidung einer Haftung muss unbedingt beachtet werden: Tatbestandsberichtigungsanträge hemmen die Rechtsmittelfrist für das Rechtsmittel zum BGH nicht4. Der Auftrag an den BGH-Anwalt muss daher unmittelbar nach Zustellung der Berufungsentscheidung erfolgen. Auch wenn Tatbestandsberichtigungsanträge in der Praxis meistens erfolglos bleiben: Soweit es greifbare Anhaltspunkte gibt, sollten sie umfassend gestellt werden.

4. Mögliche Verfahrensfehler der Instanzgerichte

Ein besonders geeignetes Einfallstor für Angriffe gegen das Berufungsurteil sind Verstöße gegen den Anspruch der Partei auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Das in Art. 103 Abs. 1 GG niedergelegte Verfahrensgrundrecht hat Verfassungsrang. In diesen Fällen schwebt über dem BGH das Bundesverfassungsgericht, von dem der BGH sich nur ungern korrigieren lässt. Um die Gehörsrüge mit Aussicht auf Erfolg erheben zu können, müssen dem Berufungsgericht entscheidungserhebliche Fehler unterlaufen sein. Solche treten zumeist als unterlassene Reaktion auf Parteivortrag zu Tage. Es sollte deshalb im Berufungsverfahren genau darauf geachtet werden, ob möglicherweise richterliche Hinweise nach § 139 ZPO unterblieben sind oder unvollständig waren. Dann muss allerdings auch schlüssig auf den richterlichen Hinweis vorgetragen werden.

Der BGH wehrt auch in diesem Zusammenhang gern Ausführungen der Parteien ab, die nicht schon Gegenstand des Vortrags in der Berufung waren. Er beruft sich dafür auf einen Subsidiaritätsgrundsatz. Eine wichtige Entscheidung zum Berufungs- und Revisionsverfahren mit potentiell haftungsrelevanten Folgen stammt vom 17.03.20165. Dort geht es um die Zulässigkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde, wenn über die Berufung durch Zurückweisungsbeschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO entschieden wurde. Der Kläger begehrte von der Beklagten Schadensersatz in einer Kapitalanlagesache. Er war in erster Instanz unterlegen. Die Berufung hatte das Berufungsgericht nach Hinweisbeschluss durch Beschluss zurückgewiesen (§ 522 Abs. 2 ZPO). Der Kläger wendet sich mit der Nichtzulassungsbeschwerde dagegen und macht erstmals geltend, dass erstinstanzliche Gericht habe sein Vorbringen übergangen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg. Ein möglicher Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG blieb unbeachtet. Der BGH beruft sich auf den Grundsatz der Subsidiarität. Dieser Grundsatz fordert, dass ein Beteiligter über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinn hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der Grundrechtsverletzung zu erwirken. Nach Auffassung des BGH hätten hier die Partei und ihr Anwalt bereits auf den Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO Stellung nehmen und die Verletzung des rechtlichen Gehörs rügen müssen. Das war nicht geschehen. Der BGH hat deshalb unter Berücksichtigung dieses Subsidiaritätsgrundsatzes entschieden: Trotz Gehörsverstoß ist eine Revision nicht zuzulassen, wenn der Beschwerdeführer den Gehörsverstoß nicht innerhalb der Stellungnahmefrist auf einen Hinweisbeschluss geltend gemacht hat. Ein zu Lasten der Partei ergehender Hinweisbeschluss sollte daher nie unkommentiert bleiben.

Ähnlich ist es mit der Nichterhebung angebotener Beweise: Es empfiehlt sich, unbedingt im Berufungsverfahren, die relevanten und entscheidungserheblichen Beweisangebote noch einmal zusammenzufassen und darzustellen, warum die Erhebung dieser Beweise relevant war und warum die Unterlassung der Beweiserhebung den Grundsatz verletzt, den vorgetragenen Parteivortrag und die Beweisangebote erschöpfend zu behandeln. Häufig verfallen Tatsachengerichte auf die Vermeidungsstrategie, Beweisantritte als nicht konkret genug zu bezeichnen. Auf Ausforschung gerichteten Beweisantritten sei nicht nachzugehen. Die Konsequenz kann für den Berufungsanwalt nur lauten: Die Qualität und Erheblichkeit der Beweisangebote muss detailliert belegt werden.

5. Hinwirken auf vollständige und rechtzeitige richterliche Hinweise nach § 139 ZPO

Es ist wichtig, die Gerichte aufzufordern, diesen Hinweis- und Aufklärungspflichten nachzukommen. Diese sind verpflichtet, die Hinweise so frühzeitig zu erteilen, dass die Partei ihre Prozessführung darauf einrichten kann (§ 139 Abs. 5 ZPO). Zu den Themen, die in diesem Kontext offensiv zugespitzt werden sollten, gehören insbesondere auch Ausführungen zur Darlegungs- und Beweislast. Es ist von erheblicher Bedeutung, jeweils deutlich zu machen, dass und warum ein richterlicher Hinweis notwendig ist und gegebenenfalls nach einem solchen Hinweis das vorzutragen, was sich aus dem Hinweis ergibt, also insbesondere auch die Entscheidungsrelevanz des dann zusätzlich Vorgetragenen umfassend darzustellen.

6. Verfahrensrechtliche und materiellrechtliche Ausführungen in der zweiten Instanz

Es ist hier von Bedeutung, bereits in der Berufung herauszuarbeiten, dass die anzufechtende Entscheidung die entscheidungserhebliche Rechtsfrage anders beantwortet als eine andere Entscheidung eines höheren oder gleichrangigen Gerichts6. Dann ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Verfahren der 3. Instanz die Revision nach § 543 Abs. 2 Ziff. 2 2. Alt. ZPO zuzulassen (Divergenz). Die Ausführungen in der Berufung sollten daher an den höchstrichterlichen Entscheidungen zu den Zulassungsgründen orientiert werden.

Der Zulassungsgrund der Divergenz ist auch dann gegeben, wenn die Auffassung des Berufungsgerichts, die zu Tage getreten ist, auf einem grundlegenden Missverständnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung beruht und daher die strukturelle Gefahr der Entstehung schwer erträglicher Unterschiede in der Rechtsprechung begründet wird7. Insbesondere wenn eine ständige Fehlerpraxis begründet werden könnte, ist das relevant und sollte schon im Berufungsverfahren aufgezeigt werden8.

Schließlich ist auch herauszuarbeiten im Zusammenhang mit den Darstellungen zum Berufungsgericht der Gesichtspunkt, dass ein bestimmtes Ergebnis des Berufungsurteils zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung notwendig ist. Im Verfahren vor dem BGH ist das der Fall, wenn das Berufungsurteil auf einem Rechtsfehler beruht, der so schwerwiegend ist, dass er das Vertrauen in die Rechtsprechung beschädigen kann. Hier kommt es auf die Abgrenzung zwischen einem einfach fehlerhaften Urteil und einem willkürlich vollständig verfehlten Urteils an, ein Kriterium, das natürlich von der Rechtsprechung relativ beliebig gehandhabt wird und kaum scharfe Konturen hat. Wichtig ist, dass die völlige Unvertretbarkeit der Auffassung des Erstgerichts herausgearbeitet wird.

In diesem Zusammenhang ist zu empfehlen, sich mit der Rechtsprechung des BGH-Senats vertraut zu machen, der zuständig sein wird. In Baustreitigkeiten ist es regelmäßig der VII. Zivilsenat, in Vergaberechtsfällen der X. Zivilsenat. Zu den Aufgaben des in der zweiten Instanz tätigen Anwalts gehört es deshalb, sich damit nach der Geschäftsverteilung des BGH vertraut zu machen, welcher Senat im Falle des Falles zuständig sein wird und sich darauf in der Argumentation einzustellen.

7. Vollstreckungsfragen

Die Berufungsentscheidung ist nach § 708 Ziff. 10 ZPO grundsätzlich ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Häufig werden BGH-Anwälte bei Übernahme einer Nichtzulassungsbeschwerde oder einer Revision gebeten, die Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 719 ZPO in der Revision oder der Nichtzulassungsbeschwerde zu erreichen. Das ist aus zwei Gründen problematisch.

Erstens: Bis der BGH-Anwalt die Gerichtsakte erhalten und durchgearbeitet hat, ist meistens die Zeit für einen sinnvollen Vollstreckungsschutzantrag vergangen. Erst nach Durcharbeitung der Akte ist der Sachverhalt so vertraut, dass ein solcher Vollstreckungsschutzantrag begründet werden kann.

Zweitens: Ein Antrag nach § 719 ZPO auf Einstellung der Zwangsvollstreckung wird von der Rechtsprechung dann zurückgewiesen, wenn die besonderen Voraussetzungen einer Zwangsvollstreckungseinstellung aus dem ja ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbaren Berufungsurteil oder dem entsprechenden Beschluss nicht bereits in der Berufungsinstanz geltend gemacht worden ist.

Dazu sagt der BGH mit Beschluss vom 24.05.20169: Die Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 719 Abs. 2 ZPO wird von der Rechtsprechung des BGH als letztes Hilfsmittel des Vollstreckungsschuldners angesehen. Diesem ist regelmäßig der Erfolg zu versagen, wenn der Schuldner es versäumt hat, im Berufungsrechtszug einen Vollstreckungsschutzantrag gemäß § 712 ZPO zu stellen, obwohl ihm ein solcher Antrag möglich war10. Dass ein Vollstreckungsantrag nach § 712 ZPO, der ja einen nicht zu ersetzenden Nachteil des Schuldners voraussetzt, in der Praxis selten Erfolg hat, steht auf einem anderen Blatt.

8. Zum Umgang mit BGH-Anwälten und einer eventuellen Rechtschutzversicherung

Für den unterlegenen Rechtsmittelführer im Berufungsverfahren ist es wichtig, den BGH-Anwalt möglichst zeitnah zu beauftragen. Das gilt natürlich in erster Linie für den aktiven Rechtsmittelführer. Aber auch auf der Passivseite ist eine rechtzeitige Beauftragung für die Erwiderung auf eine Nichtzulassungsbeschwerde sinnvoll. Der Partei dient es, wenn der BGH-Anwalt nicht erst nach einer eventuellen Zulassung der Revision eingeschaltet wird, sondern die Stellungnahme schon vor der Beratung des Senats über die Zulassung der Revision abgeben kann.

Häufig werden BGH-Anwälte von Instanzanwälten gebeten, die Aussichten eines Rechtsmittels zum BGH vorab zu prüfen. Das können BGH-Anwälte grundsätzlich vor fristwahrender Einlegung des Rechtsmittels nicht tun. Denn eine belastbare Aussage ist erst nach fristwahrender Einlegung des Rechtsmittels und vollständiger Überprüfung der Gerichtsakte innerhalb der vom BGH dann zu verlängernden Frist möglich. Die Durcharbeitung der Gerichtsakte ist für den BGH-Anwalt nicht nur aus zeitlichen Gründen für die vollständige Überprüfung unerlässlich, sondern auch deshalb, weil der BGH in den Schriftsätzen des BGH-Anwalts erwartet, dass auf die jeweiligen Seiten der Gerichtsakten konkret und genau Bezug genommen wird. Das Mandat für die dritte Instanz muss daher – sei es vom Mandanten, sei es vom Instanzanwalt – nicht nur für die Prüfung der Aussichten, sondern auch für die fristwahrende Einlegung des Rechtsmittels erteilt werden. Die Aussichtenprüfung kann dann erst nach fristwahrender Einlegung des Rechtsmittels erfolgen mit dem Ergebnis, entweder die Nichtzulassungsbeschwerde durch Begründung fortzuführen oder im Falle nicht ausreichender Erfolgschancen die Nichtzulassungsbeschwerde wieder zurückzunehmen (Abvotat). Gelegentlich unvermeidliche Abvotate – die BGH-Anwälte haben auch die Aufgabe, eine Filterfunktion wahrzunehmen11 – stoßen nicht immer auf uneingeschränkte Freude bei Instanzanwälten und Mandanten. Sie sind aber, wenn keine Aussichten bestehen – unausweichlich. Der BGH-Anwalt ist nicht verpflichtet, eine Nichtzulassungsbeschwerde zu begründen, die er für aussichtslos hält. Insbesondere hat der Mandant keinen Anspruch darauf, dass der BGH-Anwalt Schriftsätze nach den Vorgaben der Partei fertigt12. Wenn der Mandant darauf besteht, wird der BGH-Anwalt daher das Mandat niederlegen. Freilich muss das so rechtzeitig geschehen, dass der Mandant und der Instanzanwalt Gelegenheit haben, innerhalb noch laufender Frist einen anderen beim BGH zugelassenen Rechtsanwalt mit der Begründung zu beauftragen.

Von Bedeutung ist auch der Umgang mit Rechtschutzversicherungen. Da BGH-Anwälte die Aussichten eines Rechtsmittels zum BGH erst und nur dann beurteilen können, wenn die Gerichtsakte durchgearbeitet worden ist, muss bei der Einholung von Rechtschutzzusagen die Deckung für die fristwahrende Einlegung beantragt werden. Bei Einholung von Rechtschutzzusagen verlangen die Rechtschutzversicherungen häufig – nicht immer mit der Praxis der BGH-Anwälte vertraut – vor fristwahrender Einlegung des Rechtsmittels eine Prüfung der Aussichten. Eine solche ist Rechtsanwälten beim Bundesgerichtshof in diesem Stadium aber nicht möglich. Sie müssen dafür zunächst die gesamte Gerichtsakte durcharbeiten. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoller, wenn der Instanzanwalt die Rechtschutzdeckung für das Verfahren vor dem BGH selber beantragt und einige Ausführungen zu den möglichen Angriffspunkten macht. Der BGH-Anwalt kann dann allenfalls ergänzend darauf hinweisen, dass eine endgültige Aussage zu den Aussichten erst nach Einlegung des Rechtsmittels möglich ist. Es ist in diesen Fällen stets sinnvoll, den gegnerischen Anwalt darum zu bitten, vorläufig von der Bestellung eines beim BGH zugelassenen Rechtsanwalts abzusehen, bis die endgültige Durchführung des Rechtsmittels geklärt ist. In aller Regel wird einer solchen Bitte entsprochen. Zwischen Instanzanwalt und BGH-Anwalt muss deutlich geklärt werden, wer diese Bitte auszusprechen hat. Ohne ausdrücklichen Auftrag an den BGH-Anwalt ist dieser dazu nicht verpflichtet.

Der Bundesgerichtshof hält in gefestigter Rechtsprechung die Kosten eines entgegen einer solchen Bitte gleichwohl beauftragten Anwalts nur dann für erforderlich, wenn der Rechtsmittelgegner anwaltlichen Rat in einer als Risiko behaftet empfundenen Situation für erforderlich halten darf13. Solange er unsicher ist, ob das Rechtsmittel durchgeführt wird, ist die Beauftragung eines Anwalts für die entsprechende Instanz zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung objektiv nicht erforderlich und sind die Kosten damit nicht erstattbar (§ 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

Im Ergebnis ist daher in allen Fällen darauf zu achten, eine solche Bitte an den Gegenanwalt auszusprechen und mit der Rechtschutzversicherung die Übernahme der Kosten in einem frühen Stadium zu klären.

IV.
Schlussbemerkung

Die genannten acht Gesichtspunkte sollten unbedingt bei Meidung einer Haftung des Berufungsanwalts genau beachtet werden. Bekanntlich ist Haftungsrechtsprechung des IX. Senats sehr streng14; sie ist fast einer Gefährdungshaftung angenähert. Dieses extreme – vielleicht auch überzogene – Haftungsrisiko erfordert große Achtsamkeit in Bezug auf sämtliche hier angesprochenen Punkte.

 

 

*(Das Thema war Gegenstand eines Vortrags des Verfassers beim Baurechtstreff 2016 am 07.10.2016 in Frankfurt am Main).

[1] Beim BGH eingegangene Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden 2015: 4.377 Sachen (gegenüber dem Vorjahr gestiegen um 132 %);  Steigerung beim VII. Senat von 240 auf 310 Sachen (+129 %), X. Senat von 88 auf 87 Sachen (kein Anstieg). Durchschnittliche Zulassungsquote des BGH bei Nichtzulassungsbeschwerden (unter Herausrechnung der Rücknahmen) im Jahre 2015 im Verhältnis zu den insgesamt bearbeiteten Fällen: 10,12 %, beim VII. Senat 10,71 %, beim X. Senat (der allerdings sehr wenige Fälle hat) 37,5 %

[2] BGH, Beschluss vom 01.03.2016 – VIII ZR 129/15; Beschluss vom 21.12.2011 – I ZR 83/11, Rn. 1; Beschluss vom 08.03.2012 – I ZR 160/11, Rn. 3; Beschluss vom 10.05.2012 – I ZR 160/11 GRUR-RR 2012, 496, Rn. 4; Beschluss vom 25.02.2016 – I ZR 115/15

[3] BGH, Urteil vom 08.01.2007 – II ZR 334/04; BGH, Urteil vom 11.01.2011 – XI ZR 220/08 und XI ZR 326/08 sowie zur alten Rechtslage nach § 561 ZPO: BGH, Urteil vom 13.07.2000 – I ZR 49/98; BGH, Urteil vom 03.03.1995 – V ZR 266/93

[4] BGH, Beschluss vom 12.12.2006 – VI ZB 46/06

[5] Beschluss des BGH vom 17.03.2016 - IX ZR 211/14

[6] Umfassend zu den Zulassungsgründen vgl. BGH, Urt. v. 27.03.2003 – V ZR 291/02, NJW 2003, 1943 (1945) = BGHZ 154, 288 (294)

[7] BGH, Urteil vom 08.09.2004 – V ZR 260/03, NJW 2005, 154

[8] siehe Fußnote 6

[9] Beschluss des BGH vom 24.05.2016 – II ZR 105/16

[10] vgl. auch Beschluss des BGH vom 04.09.2012 – II ZR 207/12, juris Rn. 3 und zahlreiche andere Nachweise in der zitierten Entscheidung des II. Senats vom 24.05.2016 – II ZR 105/16

[11] BGH, Urteil vom 02.05.2016; BGH, Urteil vom 02.05.2016 – Senat für Anwaltssachen AnwZ 1/14; Urteil vom 05.12.2006 – AnwZ 2/06, BGHZ 170, 137; BVerfG, Beschluss vom 27.02.2008 – 1 BvR 1295/07 (NJW 2008, 1293

[12] BGH, Beschluss vom 13.09.2013 – V ZR 136/13, AnwBl 2013, 826 Rn. 4; Beschluss vom 18.12.2013 – III ZR 122/13

[13] BGH; Beschluss vom 17.12.2002 – X ZB 9/02, NJW 2003, 756; Beschluss vom 03.07.2007 – VI ZB 21/06, VersR 2007, 1579; BGH, Beschluss vom 06.12.2007 – IX ZB 223/06, NJW 2008, 1087

[14] Stichwort: Haftung für Fehler des Gerichts, BGH, Urteil vom 10.12.2015 – IX ZR 272/14; Urteil vom 24.03.1988 – IX ZR 114/87; BGH, Urteil vom 02.07.1987 – IX ZR 94/86