ZAP, Zivilprozessrecht, Fach 13, Seite 2055

Zivilprozessrecht

Streitverkündung bei alternativen Haftungsereignissen
– Kritische Besprechung des BGH-Urteils v. 18.12.2014 – VII ZR 102/14, ZAP ENNr. 158/2015 = BauR 2015, 705

Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

I. Vorbemerkung
Die Zulässigkeit der Streitverkündung auch im selbständigen Beweisverfahren ist seit Langem geklärt (BGH, Urt. v. 9.12.1996 – VII ZR 108/95, BGHZ 134, 190). In der Praxis, gerade auch im Bauprozess, spielt sie eine erhebliche Rolle:

  • Die Rechtsfolge auf prozessualem Gebiet: Die Interventionswirkung nach §§ 72, 68 ZPO. Sie bewirkt, dass der Streitverkündete an das Ergebnis der Beweisaufnahme im nachfolgenden Prozess gebunden ist.
  • Die materiell-rechtliche Wirkung: Früher Unterbrechung und jetzt Hemmung der Verjährung gem. § 209 Abs. 1 Ziff. 6 BGB.

Hinweis:
Beide Wirkungen treten grundsätzlich nur bei einer zulässigen Streitverkündung ein (BGH, Urt. v. 6.12.2007 – IX ZR 143/06, m. Anm. Reinelt jurisPR BGHZivilR 3/2008, Anm. 4).

Hinsichtlich der prozessualen Wirkung ist allerdings eine Einschränkung zu machen: Auch wenn die Streitverkündung unzulässig ist, der Streitverkündete aber beitritt, unterliegt er nach § 68 ZPO der Interventionswirkung. Insoweit kann die Streitverkündung bei Unzulässigkeit ausnahmsweise auch prozessuale Wirkung entfalten, niemals aber die materiell-rechtliche Folge der Verjährungshemmung.

Da die Zulässigkeit der Streitverkündung, von der ihre Wirkungen abhängen, erst im Regressprozess geklärt wird, steht der Streitverkünder oft vor der schwierigen Frage, ob seine Streitverkündung die von ihm beabsichtigten Wirkungen erzielen wird. Er muss das aus einer Ex-Ante-Sicht beurteilen, was der Richter erst im Regressprozess feststellen wird. Maßgebend dafür ist § 72 Abs. 1 ZPO. Danach hängt die Zulässigkeit der Streitverkündung davon ab, dass eine Partei nach ihrer – subjektiven, aber nachvollziehbaren – Prüfung im Zeitpunkt der beabsichtigten Streitverkündung vertretbar zu dem Ergebnis kommen kann, im Falle eines Unterliegens im Rechtsstreit (und nur dann!) einen Anspruch gegen einen Dritten haben zu können.

Diese für den Streitverkünder enorm wichtige Prognose ist schwierig. Richtet sie sich nach der subjektiven Einschätzung oder nach objektiven Kriterien, deren Maßgeblichkeit erst später festgestellt werden kann? Gerade weil die Zulässigkeit und Wirksamkeit der Streitverkündung von einer ungewissen Feststellung ex ante abhängen, sollten die Zulässigkeitsvoraussetzungen eindeutig definiert sein. Eine Ausweitung der Streitverkündung auf analoge Anwendungen des § 72 Abs. 1 ZPO, die die Rechtsprechung seit längerer Zeit favorisiert, stellt das in Frage.

Die Rechtsprechung hat folgende These entwickelt: Auch wenn der Ausgang des Rechtsstreits für die Haftung des Dritten irrelevant ist, jedoch im Verfahren gegen ihn (ggf. durch entsprechende Beweise) Feststellungen getroffen werden können, die im Regressprozess für einen Dritten von Bedeutung sein können, soll in bestimmten Fällen in analoger Anwendung des § 72 ZPO (auch ohne Erfüllung der Abhängigkeitsvoraussetzungen) eine Streitverkündung zulässig sein (so auch bereits die Literatur, bspw. Schultes in: Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 4. Auflage, § 72 Rn. 9, 12). Es geht hier um Fälle einer nicht nur rechtlichen, sondern tatsächlichen Alternativität, ggf. auch um alternative Haftungsereignisse, also nicht nur die unterschiedliche rechtliche Bewertung eines Vorgangs. Verantwortlich ist von vornherein ein anderer Schädiger aus einem anderen Rechtsgrund und vielleicht auch einem anderen Haftungsereignis als demjenigen, aus dem der ursprüngliche Prozessgegner in Anspruch genommen wird.

II. Bindungswirkung der Streitverkündung bei Alternativhaftung
Befestigt wurde diese Rechtsprechung zur Streitverkündung gegenüber einem alternativ haftenden Schädiger durch eine neue Entscheidung des VII. Senats (Urt. v. 18.12.2014 – VII ZR 102/14, ZAP EN-Nr. 158/2015 = NJW 2015, 559 m. zust. Anm. Seibel IBR 2015, 174; Retzlaff jurisPR-BGHZivilR 5/2015 Anm. 3 und Schäfer NJW 2015, 561).

Der Sachverhalt der BGH-Entscheidung:
Der Kläger hatte zunächst in einer Werkstatt K. nach einem Unfall einen neuen Kühler in sein Fahrzeug einbauen lassen. Zwei Monate später reparierte der Beklagte einen Motorschaden am Pkw. In der Folgezeit blieb der Kläger mit dem Wagen auf der Autobahn liegen. Über die Ursache des Schadens (fehlerhaft eingebauter Kühler oder fehlerhafte Motorreparatur) herrschte Unklarheit. Eine Einigung auf einen Sachverständigen, der mit bindender Wirkung für alle drei Parteien den Mangel feststellen und analysieren sollte, misslang.

Der Kläger leitete daraufhin ein selbständiges Beweisverfahren zur Feststellung der Schadensursache gegen die K.-GmbH ein, die den Kühler eingebaut hatte und verkündete dem Beklagten, der den Motor später repariert hatte, den Streit. Dieser trat dem Verfahren nicht bei. Im Beweisverfahren stellte sich durch Gutachten heraus, dass (nur) die mangelhafte Motorreparatur des Beklagten Ursache des Schadens war. Der Kläger hat daraufhin den Beklagten auf die Kosten des selbständigen Beweisverfahrens mit Erfolg in Anspruch genommen.

Die Begründung der Entscheidung:
Der BGH hat dem Kläger sämtliche Aufwendungen zugesprochen. Dazu gehören nach seiner Auffassung auch die Kosten des erfolglosen Beweisverfahrens gegen den vermeintlichen Schädiger (Werkstatt K.). Der wirklich Verantwortliche hatte nämlich den Geschädigten (wie sich nachträglich herausgestellt hat) gerade zu Unrecht auf den Einbau des Kühlers und eine angebliche Schadensverantwortlichkeit der Werkstatt verwiesen. Nach Meinung des BGH gilt (jedenfalls) für die Streitverkündung im selbständigen Beweisverfahren: Die Streitverkündung in einem solchen Alternativfall ist zulässig. Die Folge der Bejahung der Zulässigkeit: Der für die fehlerhafte Reparatur verantwortliche Beklagte trägt nicht nur alle Aufwendungen und Kosten für die Reparatur selber, sondern auch sämtliche Verfahrenskosten des zunächst als vermeintlichen Schädiger in Anspruch genommenen K., der den Kühler eingebaut hatte.

Der BGH beruft sich für seine Auffassung zur Zulässigkeit der Streitverkündung u.a. auf die Entscheidung des VI. Senats vom 27.10.1970 (Az. VI ZR 62/09, NJW 1971, 134). Dort hatte der VI. Senat geurteilt: „Der wegen Eigentumsverletzung zu ersetzende Schaden umfasst jedenfalls dann auch die Kosten eines Vorprozesses des Geschädigten gegen einen Dritten, wenn der Schädiger den Geschädigten bei einer für diesen nicht aufklärbaren Sachlage durch unrichtige Angaben über den Verletzungshergang zu dem Vorgehen gegen den unbeteiligten Dritten veranlasst hat.“

III. Kritische Würdigung der Entscheidung
Nach meiner Überzeugung gibt diese Entscheidung allerdings für die Fälle der Alternativhaftung in dieser Form nichts her. Der VI. Senat führt dort aus: „Kommen mehrere Personen als Schädiger in Betracht, so ist es allerdings in der Regel das Risiko des Klägers, ob er den richtigen oder den falschen verklagt, denn er verstößt gegen seine Pflicht zur Minderung des Schadens (§ 254 Abs. 2 BGB), wenn er dadurch, dass er einen falschen in Anspruch nimmt, höhere Kosten verursacht.“ (Tz. 29). Etwas anderes kann gelten – schränkt der VI. Senat ein – „wenn der Geschädigte keine Möglichkeit zur Aufklärung der Schadensursache hat, der Schädiger aber durch unrichtige Angaben über den Verletzungstatbestand dazu beiträgt, den Geschädigten zunächst auf eine falsche Fährte zu setzen.“

So liegt es aber hier nicht. Der Geschädigte hatte durchaus die Möglichkeit, im Vorfeld die Verantwortlichkeit verbindlich abzuklären und erst dann gerichtliche Maßnahmen gegen den richtigen Schädiger einzuleiten. Eine bewusst unrichtige Angabe, die den Geschädigten auf die falsche Fährte gesetzt hätte, hat niemand gemacht und konnte in diesem frühen Stadium auch niemand machen. Zudem: Es geht um verschiedene mögliche Haftungsereignisse: Einbau eines Kühlers bzw. Motorreparatur und damit nicht um eine nur rechtlich begründete, sondern tatsächliche Alternativität, bei der die Zulässigkeit der Streitverkündung nach meiner Ansicht fraglich ist (vgl. dazu auch Schultes in: Münchener Kommentar, a.a.O., § 72 Rn. 12).

Die Kernaussage der BGH-Entscheidung zur analogen Anwendung der Streitverkündung bei Alternativhaftung besteht darin, dass die Bindungswirkung für das Zweitgericht nur insoweit eintritt, als das im selbständigen Beweisverfahren als Erstverfahren gewonnene Beweisergebnis im Verhältnis zum Antragsgegner von „rechtlicher Relevanz“ ist (BGH, Urt. v. 18.12.2014 – VII ZR 102/14, juris Tz. 21). Es muss also um Feststellungen gehen, die auch für die Haftung des möglicherweise Alternativhaftenden von Bedeutung sind. Insoweit kann Bindungswirkung eintreten (vgl. Schäfer in der Anm. zur Entscheidung des BGH NJW 2015, 557, 561). Sie besteht im vorliegenden Fall darin, dass die vom Sachverständigen durchgeführte Begutachtung zugleich zu Erkenntnissen darüber führen kann, ob ein Dritter die Ursache des Mangels oder Schadens gesetzt hat. Keine rechtliche Relevanz besteht im Verhältnis zum Antragsgegner, soweit das Beweisergebnis – so der BGH in der zitierten Entscheidung – nicht geeignet ist, zur Klärung der Frage beizutragen, ob der Antragsgegner den streitgegenständlichen Mangel oder Schaden verursacht hat. Nach diesen Kriterien die Bindungswirkung des § 68 ZPO festzustellen, ist nicht einfach. Der Streitverkündete steht in solchen Fällen der Alternativhaftung vor einem doppelten Problem: Sind die Voraussetzungen für eine Streitverkündung gegeben, weil der Geschädigte ex ante damit rechnen kann, im Verfahren gegen den Beklagten, dessen mangelnde Haftung sich hinterher herausstellt, Erkenntnisse zu gewinnen, die verbindlich für den Regressprozess von Bedeutung sein können? Bemisst sich die Relevanz solcher erwarteter Tatsachen aus der subjektiven ex ante Sicht des Streitverkündenden oder aus der nachträglich gewonnenen ex post Sicht des Richters? Täuscht sich derjenige, der die Streitverkündung beabsichtigt, möglicherweise über die rechtliche Relevanz und damit über die Zulässigkeit der Streitverkündung? Verfehlt er gegebenenfalls deren prozessuale und materiell-rechtliche Wirkungen?

Diese Ungewissheiten machen es gerade in solchen Fällen, in denen § 72 ZPO analog angewendet werden soll, nämlich in Fällen alternativer Haftung, außerordentlich schwierig, eine rechtssichere Prognose in Bezug auf die Zulässigkeit der Streitverkündung zu riskieren. Gibt man damit dem Streitverkünder nicht Steine statt Brot?

Das Problem bei der Streitverkündung in Fällen alternativer Haftungsereignisse besteht gerade darin, dass vollkommen verschiedene Schadensursachen mit verschiedenen möglichen Fehlerkonstellationen gesetzt werden können. Es handelt sich also nicht um den klassischen Fall der Streitverkündung (Beispiel: Haftung des vollmachtslosen Vertreters, der von einem angeblich Vertretenen – wie sich herausstellt – keine Vollmacht hat und deswegen im Regress nach § 179 BGB haftet). Im Fall der Streitverkündung bei Alternativhaftung geht es um vollkommen unterschiedliche potentielle Haftungsereignisse und nicht nur um die Verantwortlichkeit mehrerer potentieller Schädiger für einen bestimmten Fehler. Ganz unterschiedliche Schadensvorgänge und unterschiedliche Schädiger kommen in solchen Fällen in Betracht. Alternative Haftungsereignisse gibt es auch bei unerlaubten Handlungen. Wenn etwa mehrere Personen Steine auf ein Opfer werfen, ohne dass klar ist, wessen Stein die schwere Kopfverletzung verursacht hat, handelt es sich um einen Fall der alternativen Haftung (soweit nicht ausnahmsweise bei einem gemeinsamen gefährdenden Tun, beispielsweise § 830 Abs. 1 S. 2 BGB eingreift, vgl. hierzu im Falle von Steinwürfen bei Demonstrationen, Reinelt, Zivilrechtliche Haftung für Demonstrationsschäden, NJW 1970, 19). Nach zutreffender Auffassung wird man allerdings in solchen Fällen der tatsächlichen Alternativität eine Streitverkündung nicht für zulässig halten (Schulte in: Münchener Kommentar, a.a.O, § 72 Rn. 12).

Würde der BGH möglicherweise trotzdem in solchen Fällen relevant getroffene Feststellungen der Streitverkündungswirkung des § 68 ZPO unterstellen? Wenn etwa A von einem Stein getroffen und B vorbeigeworfen hat, wäre unter Übertragung der Argumentation des BGH ein Prozess gegen den schuldlosen B mit zulässiger Streitverkündung gegen A denkbar. Eine Zeugenaussage im Prozess über die Steinwürfe könnte in Richtung auf den Streitverkündeten maßgeblich sein und diesen daher binden. Ein solches Verfahren hätte aber ganz andere Konsequenzen als eine gemeinsame Klage gegen beide Alternativschädiger.

Wenn im Vorfeld der Geschädigte A im Falle einer nur alternativen Haftung (also bei Ausschluss gemeinsamen Tuns) beide verklagt, steht von Anfang an fest, dass er den Prozess gegen einen alternativ Haftenden verlieren und die Kosten insoweit zu tragen haben wird.

Geht er dagegen nach Maßgabe der BGH-Entscheidung mit Streitverkündung bei alternativer Haftung im Prozess- oder Beweisverfahren gegen einen potentiellen Schädiger vor, hat er kein großes Risiko, wenn er den falschen verklagt oder mit einem selbständigen Beweisverfahren überzogen hat. Denn im Regressprozess kann er unter Berücksichtigung der neuen Entscheidung des BGH nicht nur vollen Schadensersatz, sondern auch die Kosten des vergeblich geführten Vorverfahrens verlangen.

Ich halte es für zweifelhaft, ob die weite Ausdehnung der Streitverkündung auf Fälle alternativer Haftungsereignisse noch mit dem Sinn des § 72 ZPO und der grundlegenden Verteilung des Risikos bezüglich der Darlegungs- und Beweislast eines Geschädigten vereinbar ist.

Die Ausdehnung der Streitverkündung durch Analogie für solche Fälle tatsächlich-alternativer Haftung führt auf der einen Seite dazu, dass die Vorausberechenbarkeit der Zulässigkeit einer Streitverkündung in vielen Fällen noch schwieriger und damit die Rechtssicherheit auch gerade im Interesse des Streitverkünders gefährdet ist. Auf der anderen Seite bewirkt sie im Ergebnis eine Risikoverlagerung zugunsten des Geschädigten, nicht nur in Bezug auf Darlegungs- und Beweislast, sondern auch hinsichtlich des Umfangs der Kostenbelastung bei Geltendmachung von Ansprüchen.

Die „Analogie“ zu § 72 ZPO in Fällen alternativer Haftung ignoriert das zentrale Tatbestandsmerkmal der Abhängigkeit vom Ausgang des Rechtsstreits; sie sollte überdacht werden. Keinesfalls darf sich der beratende Anwalt bei einer solchen Streitverkündung sicher sein, dass die Hemmung der Verjährung nach § 209 Abs. 1 Ziff. 6 BGB eintritt.