jurisPR-BGHZivilR 2/2013 Anm. 1

Merkantiler Minderwert im Baurecht

BGH 7. Zivilsenat, Urteil vom 06.12.2012 - VII ZR 84/10
von Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, RA BGH

Leitsatz
Zur Schätzung eines Mindestbetrages für einen merkantilen Minderwert eines Gebäudes nach Beseitigung von Rissen im Innen- und Außenputz.

A. Problemstellung
Beim Begriff des merkantilen Minderwerts denkt man vorrangig an verbleibende Wertverluste nach Kraftfahrzeugreparaturen (vgl. Palandt/Grüneberg, BGB, 72. Aufl. 2013, § 251 Rn. 14). Der merkantile Minderwert spielt jedoch auch im Werkvertragsrecht, insbesondere im Baurecht eine wichtige Rolle (vgl. bereits BGH, Urt. v. 14.01.1971 - VII ZR 3/69 - BGHZ 55, 198; BGH, Urt. v. 19.09.1985 - VII ZR 158/84 - NJW 1986, 428). Zum merkantilen Minderwert stellen sich folgende Fragen:

- Was sind die Voraussetzungen des merkantilen Minderwerts?
- Kommt es darauf an, dass mutmaßlich weitere Schäden auftreten?
- Kann von einem merkantilen Minderwert nur dann die Rede sein, wenn der Verkäufer eine entsprechende Aufklärungspflicht über die Mängel hätte?
- Gibt es eine Relation zwischen den Herstellungskosten des Bauwerks insgesamt und den Einschränkungen, die die merkantile Minderwertbeurteilung nach sich zieht?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin (Bauherrin) begehrt Schadensersatz wegen mangelhafter Planungsleistungen des Architekten und des Statikers. Sie ließ durch eine Generalunternehmerin zwei baugleiche Mehrfamilienhäuser errichten, die die Beklagten (als Tragwerksplaner und als Architekt) geplant haben. Nach Fertigstellung der Bauvorhaben treten vielfältige Risse im Innen- und Außenputz auf. Sie beruhen auf einem Schwinden der Decke im Zusammenhang mit Temperaturschwankungen, weil eine funktionsfähige Fuge zwischen Leichtmauerwerk und im Stahlbeton Attikaelement in Planung und Ausführung fehlt. Der Tragwerksplanerin wird vorgeworfen, sie habe keine konstruktive Lösung für die zu befürchtenden Rissbildungen vorgesehen, die planenden Architekten hätten dann ihrerseits keine Vorgaben in der Entwurfsplanung gemacht.

Die Risse werden in der Folgezeit beseitigt. Die Klägerin macht als Schadensersatz die aufgewandten Kosten für Mangelbeseitigung und Mietausfallschaden geltend und darüber hinaus einen Anspruch auf Zahlung eines merkantilen Minderwerts. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin lässt der BGH die Revision zu. Die beklagten Statiker und Architekten, die zunächst ihrerseits Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt, diese dann aber zurückgenommen hatten, begehren im Wege der Anschlussrevision die vollständige Klageabweisung.

Beide Instanzgerichte haben den Schadensersatzanspruch im Zusammenhang mit der Mängelbeseitigung zugesprochen. Einen Anspruch auf merkantilen Minderwert hat das Berufungsgericht jedoch abgelehnt. Zwar werde man – so das Berufungsgericht – angesichts der Größenordnung der erforderlich gewesenen Nachbesserungsarbeiten davon ausgehen müssen, dass ein redlicher Verkäufer einen Kaufinteressenten über die Mängel und deren Beseitigung im Zusammenhang mit den Rissen hätte informieren müssen. Indessen findet das Berufungsgericht in einem eingeholten Sachverständigengutachten keine geeignete Grundlage für die Ermittlungen des Minderwerts. Der Sachverständige habe nicht erläutert, wie er auf die von ihm herangezogenen Ausgangswerte gekommen sei. Er habe erklärt, es handele sich um Schätzwerte, die jeweils einzeln angreifbar seien und auf seiner freien Schätzung beruhten. Die von ihm vorgenommene Schätzung beruhe auf seinem „Bauchgefühl“.

Auch eine „Expertenbefragung“, die der Sachverständige durchgeführt habe, sei kein geeignetes Mittel zur Feststellung eines merkantilen Minderwerts. Schließlich biete auch ein eingeholtes Privatgutachten keine ausreichend gesicherte Schätzungsgrundlage. Insgesamt lägen keine konkreten Grundlagen für eine Schadenschätzung vor. Deshalb könne bei der Klägerin kein Schaden durch eine Wertminderung festgestellt werden.

Eine erneute Anhörung des Gutachters, der sein Gutachten in I. Instanz erstattet hat, hielt das Berufungsgericht nicht für erforderlich.

Die Anschlussrevision der Planer, mit der sie versucht haben, ihre Verurteilung im Schadensersatz für die Mängelbeseitigung anzugreifen, weist das Berufungsgericht zurück.

Nach Auffassung des BGH hält das Urteil einer revisionsrechtlichen Prüfung nur hinsichtlich der Verurteilung der Planer in Schadensersatz stand. Soweit der Anspruch auf Ersatz eines merkantilen Minderwerts abgelehnt wird, hebt der BGH das Urteil auf und verweist zurück, und zwar an einen anderen Senat des Berufungsgerichts.

Die vom Berufungsgericht festgestellten Planungsfehler der Beklagten (die fehlende Ausbildung einer funktionsfähigen Fuge zwischen Leichtmauerwerk und Stahlbeton Attikaelement) waren schadensursächlich. Nach Auffassung des BGH kommt es nicht darauf an, ob darüber hinaus Ausführungsfehler auch noch eine Rolle gespielt haben. Das hätte nur zu einer Mitursächlichkeit von Fehlern während der Bauausführung geführt, für die die Planer nicht verantwortlich waren. Die fehlerhafte Planung sei aber jedenfalls die entscheidende Ursache der Mängel gewesen. Die Verurteilung der Planer in den Schadensersatz habe daher Bestand.
Der BGH teilt dagegen nicht die Auffassung des Berufungsgerichts, es sei kein Anspruch der Klägerin wegen eines merkantilen Minderwerts festzustellen. Zwar sei die Bemessung der Höhe des Schadensersatzes in erster Linie Sache des Tatrichters, der nach § 287 ZPO schätzen könne und müsse. Der BGH könne revisionsrechtlich nur überprüfen, ob der Tatrichter die Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung verkannt habe. Es werde vom Berufungsgericht zwar richtig erkannt, dass die Grundlagen für eine merkantile Wertminderung vorliegen könnten. Das Berufungsurteil habe aber die Anforderungen überspannt, die notwendig sind, um nach § 287 Abs. 1 ZPO jedenfalls einen eingetretenen Mindestschaden zu schätzen. Soweit das Berufungsgericht die Erläuterungen des Sachverständigen in I. Instanz für unzureichend gehalten habe, hätte es von einer erneuten Anhörung des Sachverständigen nicht absehen dürfen.

C. Kontext der Entscheidung
Was sind die Voraussetzungen des merkantilen Minderwerts?

Ein merkantiler Minderwert liegt vor, wenn nach erfolgter Mängelbeseitigung eine verringerte Verwertbarkeit gegeben ist. Maßgebend ist die Beurteilung, ob die Verkehrskreise, also eventuelle Kaufinteressenten, im Vergleich zur vertragsgemäßen Ausführung geringeres Vertrauen in die Qualität des Gebäudes haben (BGH, Urt. v. 09.01.2003 - VII ZR 181/00 - BGHZ 153, 279; BGH, Urt. v. 15.12.1994 - VII ZR 246/93 - BauR 1995, 388; BGH, Urt. v. 11.07.1991 - VII ZR 301/90 - BauR 1991, 744; BGH, Urt. v. 19.09.1985 - VII ZR 158/84 - BauR 1986, 103).

Ob tatsächlich mit dem Auftreten weiterer Schäden zu rechnen ist oder nicht, spielt für die Frage des merkantilen Minderwerts keine entscheidende Rolle.

Das Berufungsgericht hat selber festgestellt, dass es sich bei den Gebäuden um marktgängige Objekte handelt. Es kommt also darauf an, ob ein informierter redlicher Verkäufer bei Kenntnis der Mängel (und ggf. auch deren Beseitigung) einen geringeren Kaufpreis zahlen würde. Auch wenn mit erneuten Schäden nicht zu rechnen ist, diese jedoch auch nicht völlig auszuschließen sind, kann es durchaus denkbar sein, dass interessierte Käufer wegen der planungsbedingten mangelhaften Konstruktion (die trotz Beseitigung der Risse verbleibt) einen reduzierten Kaufpreis zahlen würden. Das aber ist der entscheidende Ansatzpunkt für den merkantilen Minderwert: Wenn die vertragswidrige Ausführung eine verringerte Verwertbarkeit zur Folge hat und demgemäß die vorhandenen Planungsmängel Einfluss auf den Veräußerungswert des Gebäudes haben, kommt es für die Geltendmachung eines merkantilen Minderwerts nicht darauf an, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit Schäden wieder auftreten. Die Frage, ob die Käuflichkeit gemindert ist, ist eine hypothetische, nach der Bedeutung der Schäden und der Mängel und der Verkehrsanschauung abzuschätzende Frage. Es kommt im Ergebnis nicht auf die Frage an, ob die Befürchtung des Wiederauftretens von Schäden gerechtfertigt ist oder nicht. Muss man nämlich prognostizieren, dass Schäden wieder auftreten, handelt es sich gar nicht um die Frage des merkantilen Minderwerts, sondern um die Beurteilung künftig erwarteter Schadensbeseitigungskosten.

Der BGH beantwortet die Frage nicht ausdrücklich, ob von einem merkantilen Minderwert nur dann die Rede sein kann, wenn der Verkäufer eine entsprechende Aufklärungspflicht über die Mängel hätte.

Nach meiner Auffassung wird es in der Regel so sein, dass es einen Gleichlauf zwischen Aufklärungspflicht des Verkäufers und möglichem merkantilen Minderwert gibt. Es scheinen aber auch Fälle denkbar, in denen interessierte Verkehrskreise einen reduzierten Kaufpreis zahlen würden, ohne dass die Mängel im einzelnen Fall eine Aufklärungspflicht des Verkäufers begründen. Denn die Aufklärungspflicht ist von vielen Faktoren abhängig, die nicht generell für alle Fälle gleich entschieden werden können (Kenntnis des Verkäufers etc.).

Da für die Bewertung des merkantilen Minderwerts das Auftreten neuer Schäden irrelevant ist, ist nach meiner Auffassung keine Relation zwischen den Herstellungskosten des Bauwerks und den Mängelbeseitigungskosten herzustellen. Denn es kann auch gravierende Mängel bei einem Bauvorhaben geben, bei denen gleichwohl die Mängelbeseitigung nur einen Bruchteil der gesamten Erstellungskosten ausmacht. Auch in solchen Fällen können die Mängel eine Bedeutung haben, die letztlich eine entsprechende Reduzierung eines erzielbaren Kaufpreises zur Folge haben können. Gerade bei Rissen, die sich aus fehlerhaften Ausführungen (fehlende Fuge) ergeben, werden interessierte Verkehrskreise (auch nach Beseitigung der Risse) unter Umständen beim Erwerb Abschläge vornehmen.

D. Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des VII. Zivilsenats gibt auch Hinweise darauf, wie ein solcher merkantiler Minderwert ggf. zu ermitteln ist. Im vorliegenden Fall hatte der Sachverständige eine „Expertenbefragung“ durchgeführt. Er hat in Telefongesprächen von jeweils 10 bis 15 Minuten verschiedene Experten (deren Zahl nicht genannt ist) befragt. Diese haben Prozentsätze zwischen 5% und 30% des Kaufpreises geschätzt. Das Berufungsgericht hat die breite Marge der Schätzungen als ungeeignete Grundlage für eine Schätzung nach § 287 ZPO angesehen. Demgegenüber hatte der Sachverständige im vorliegenden Fall, teilweise unter Berufung auf sein Bauchgefühl, einen merkantilen Minderwert in Höhe von 150.000 Euro für die zwei baugleichen Mehrfamilienhäuser geschätzt.

Nach Auffassung des BGH kann die Beurteilung des Sachverständigen eine geeignete Grundlage sein, eine Schadensschätzung nach § 287 Abs. 1 ZPO durch das Gericht vorzunehmen. Nach dieser Vorschrift soll das Gericht die Schadenshöhe gerade schätzen, wobei in Kauf genommen werden muss, dass das Ergebnis unter Umständen mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt (BGH, Urt. v. 16.12.1963 - III ZR 47/63 - NJW 1964, 589; Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 287 Rn. 2).

Nur wenn mangels greifbarer Anhaltspunkte eine Grundlage für das Urteil nicht zu gewinnen ist und – so der VII. Zivilsenat – das richterliche Ermessen vollends in der Luft hängen würde, eine Schätzung also nicht möglich ist, bleibt es bei der Regel, dass den Kläger die Beweislast für die klagebegründenden Tatsachen trifft und deren Nichterweislichkeit ihm schadet (BGH, Urt. v. 16.12.1963 - III ZR 47/63; BGH, Urt. v. 11.03.2004 - VII ZR 339/02 - BauR 2004, 1290).

Im vorliegenden Fall habe das Berufungsgericht die entsprechende Schätzung vornehmen können. Der Umstand, dass es sich hierzu nicht in der Lage gesehen und trotz seiner Zweifel den Sachverständigen noch nicht einmal angehört oder ergänzend beauftragt hat, macht es erforderlich, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Dass der BGH dabei davon Gebrauch gemacht hat, an einen anderen Senat des Berufungsgerichts zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO), lässt auf eine deutliche Kritik der recht oberflächlichen Behandlung des Falles durch das Berufungsgericht schließen.

Der Umstand, dass das Berufungsgericht sich außerstande gesehen hat, eine Schätzung nach § 287 ZPO (anknüpfend an die Expertenbefragung des Sachverständigen) durchzuführen (und diesen noch nicht einmal erneut anzuhören), beruht möglicherweise darauf, dass der Sachverständige selber von „Bauchgefühl“ gesprochen hat. Die Verwendung dieses Begriffs war vielleicht nicht glücklich. Aber warum soll nicht auch ein Sachverständiger (oder auch ein Gericht) deutlich artikulieren, was bei Sachverständigen-Ermittlungen und -Schätzungen nach § 287 ZPO tatsächlich eine Rolle spielt, nämlich eine nicht bis ins Letzte rational begründbare Wertung. Diese kann in Fällen, in denen es um Schadensschätzungen nach § 287 ZPO geht, durchaus auch Grundlage der Bemessung merkantilen Minderwerts sein. Zwar müssen objektive Anknüpfungstatsachen ermittelt werden (das ist durch die Expertenbefragung geschehen). Eine daran anknüpfende, vom Gericht vorzunehmende Schätzung enthält aber stets – auch wenn das nicht expressis verbis artikuliert wird – Ansätze von „Bauchgefühl“. Auch wenn man es nicht gerne deutlich sagt: Es gibt eben Sachverständigenschätzungen und richterliche Entscheidungen, die auf einem nicht bis ins Letzte aufklärbaren Judiz (oder eben „Bauchgefühl“) beruhen und gleichwohl tragfähig sind.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Die Planer hatten ihrerseits zunächst Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und diese zurückgenommen.

Das hindert selbstverständlich nicht die Einlegung einer Anschlussrevision mit dem gleichen Thema, wenn die Revision auf den Antrag der Gegenseite (Klägerin) zugelassen wird. Durch die Rücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde wird also weder ein Verzicht auf den dann mit der Anschlussrevision verfolgten Anspruch erklärt, noch tritt Präklusion ein. Vielmehr kann sich der Revisionsbeklagte jederzeit nach § 554 ZPO der Revision durch Einreichung der Revisionsanschlussschrift mit einer Anschlussrevision am Verfahren beteiligen.

Für den Anwalt ist allerdings zu beachten: Die Anschlussrevision muss zwingend schon in der Anschlussschrift begründet werden (§ 554 Abs. 3 ZPO). Eine Verlängerung der Anschlussbegründungsfrist und isolierte Einlegung der Anschließung ohne Begründung sind nicht zulässig. Das ist haftungsträchtig. Es kann nämlich den Anschlussrevisionsführer in Schwierigkeiten bringen, weil er zum Zeitpunkt der Begründung der Anschlussrevision meist nicht in den Besitz der Gerichtsakten kommen kann und daher für die Begründung seiner Anschlussrevision auf entsprechende umfangreiche Zuarbeit der Instanzanwälte angewiesen ist.