jurisPR-BGHZivilR 3/2013 Anm. 4

Internationaler Gerichtsstand des Vermögens bei inländischem Wohnsitz des Klägers

BGH 3. Zivilsenat, Beschluss vom 13.12.2012 - III ZR 282/11
Dr. Barbara Genius, Rechtsanwältin beim Bundesgerichtshof

Leitsatz
Als hinreichender Inlandsbezug für die Anwendung des § 23 ZPO ist der Wohnsitz des Klägers in Deutschland anzusehen (im Anschluss an das Senatsurt. v. 24.11.1988 - III ZR 150/87 - NJW 1989, 1431).

A. Problemstellung
Hat der Beklagte keinen (Wohn-)Sitz im Inland, so scheidet ein allgemeiner Gerichtsstand (§§ 12 ff. ZPO) in Deutschland aus. Die beiden besonderen Gerichtsstände des § 23 ZPO für vermögensrechtliche Ansprüche gegen Personen, die im Inland keinen Wohnsitz haben, sollen den daraus erwachsenden Rechtsverfolgungsnachteil des Klägers ausgleichen.

Der Beschluss des III. Zivilsenats befasst sich mit einer ungeschriebenen Einschränkung des Vermögensgerichtsstands gemäß § 23 Satz 1 Alt. 1 ZPO.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Gegenstand war eine Schadensersatzklage gegen eine internationale Ratingagentur wegen des Erwerbs von Zertifikaten; der Emissionsprospekt habe die Angabe enthalten, dass die Ratingagentur sowohl der Emittentin als auch ihrer Muttergesellschaft, über deren Vermögen am 15.09.2008 in den USA das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, eine Kreditwürdigkeit von A+ bescheinigt habe.

Der Kläger, ein deutscher Staatsangehöriger mit Aufenthalt und Wohnsitz in Deutschland, hat die Klage vor dem LG Frankfurt am Main erhoben und die Zuständigkeit des Gerichts aus § 23 ZPO hergeleitet. Das Landgericht hat sie unter einer im Internetauftritt der Beklagten als „Office“ bezeichneten Adresse in Frankfurt am Main zugestellt. Die entsprechenden Geschäftsräume werden von einer Schwestergesellschaft der Beklagten genutzt. Das Landgericht hat die abgesonderte Verhandlung über die Zulässigkeit der Klage angeordnet und die Klage unter Verneinung der Voraussetzungen des § 23 ZPO wegen örtlicher Unzuständigkeit als unzulässig abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht das Ersturteil aufgehoben und die Klage für zulässig erklärt.

Der BGH hat auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten die Revision zugelassen, in Anwendung des § 544 Abs. 7 ZPO das Berufungsurteil wegen entscheidungserheblicher Verletzung des Gehörsanspruchs der Beklagten aus Art. 103 Abs. 1 GG aufgehoben und die Sache an das Vordergericht zurückverwiesen.

Die Beklagte hatte – so der Beschluss – die wirksame Zustellung der Klage gemäß § 178 ZPO, also im Wege der Ersatzzustellung in Geschäftsräumen, schriftsätzlich bestritten, sich nach Ansicht des Berufungsgerichts später jedoch rügelos auf die Klage vor dem Erstgericht eingelassen. Damit – so der BGH – setze sich das Berufungsgericht gehörswidrig über zentrales Vorbringen der Beklagten, wie es sich aus Verhandlungsprotokoll und Ersturteil ergab, hinweg. Ebenso wenig sei nach Vortrag und Antragstellung der Beklagten die Zulässigkeitsrüge in der Berufungsinstanz fallengelassen worden.
Für das weitere Verfahren bestätigt der Senat – diesmal mit dem Berufungs- und entgegen dem Erstgericht – die örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts aus § 23 ZPO. Auf diese Entscheidungsgründe verweist der Leitsatz des Beschlusses.

C. Kontext der Entscheidung
§ 23 ZPO regelt zwei besondere Gerichtsstände für vermögensrechtliche Ansprüche gegen Personen, die im Inland keinen Wohnsitz haben; sie begründet eine örtliche und zugleich eine – auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfende (st. Rspr. vgl. BGH, Urt. v. 24.11.1988 - III ZR 150/87 - NJW 1989, 1431 Rn. 24; BGH, Urt. v. 02.07.1991 - XI ZR 206/90 - BGHZ 115, 90 Rn. 7; BGH, Urt. v. 26.06.2001 - XI ZR 241/00 - BGHReport 2001, 894 Rn. 13) – internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte.

Gemäß § 23 ZPO ist für Klagen wegen vermögensrechtlicher Ansprüche gegen eine Person, die im Inland keinen Wohnsitz hat, das Gericht zuständig, in dessen Bezirk sich Vermögen derselben (Gerichtsstand des Vermögens, 1. Alt.) oder der mit der Klage in Anspruch genommene Gegenstand (Gerichtsstand des Streitobjekts, 2. Alt.) befindet.

§ 23 ZPO, dessen Hauptbedeutung bei Klagen gegen Ausländer liegt, gehört angesichts der Weite der von der 1. Alternative (Vermögensgerichtsstand) erfassten Sachverhalte zu den im internationalen Rechtsverkehr als störend empfundenen – jedoch nicht völkerrechts- oder verfassungswidrigen (BGH, Urt. v. 24.11.1988 - III ZR 150/87 - NJW 1989, 1431 Rn. 27; BGH, Urt. v. 02.07.1991 - XI ZR 206/90 - BGHZ 115, 90 Rn. 12, m.w.N.) – sog. exorbitanten Gerichtsständen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung trägt den Bedenken Rechnung, indem sie als Korrektiv für die Begründung des Vermögensgerichtsstands (§ 23 Satz 1 Alt. 1 ZPO) – nicht des Gerichtsstands des Klagegegenstands (2. Alt.) – die Vorschrift einschränkend auslegt und als ungeschriebenes Merkmal einen über die Vermögensbelegenheit hinausgehenden „hinreichenden Inlandsbezug“ des Rechtsstreits verlangt (grundlegend BGH, Urt. v. 02.07.1991 - XI ZR 206/90 - BGHZ 115, 90 Rn. 17 ff.); dies gilt jedenfalls für das Erkenntnisverfahren (anders für das den Vollstreckungszugriff vorbereitende Verfahren der Vollstreckbarerklärung ausländischer Urteile gemäß § 722 ZPO: BGH, Beschl. v. 28.10.1996 - X ARZ 1071/96 - NJW 1997, 325 Rn. 6 ff.; offenlassend, ob auch im Rahmen eines Verfahrens zur Anerkennung ausländischer Urteile gemäß § 238 Abs. 1 Nr. 1 ZPO spiegelbildlich die Einschränkung gilt, dass § 23 Satz 1 Alt. 1 ZPO einen hinreichenden Inlandsbezug voraussetzt: BGH, Urt. v. 29.04.1999 - IX ZR 263/97 - BGHZ 141, 286 Rn. 10).

In der Entscheidung aus dem Jahre 1991 (XI ZR 206/90) hatte sich der BGH mit ausführlicher Begründung der zunehmend vertretenen Auffassung angeschlossen, dass der Vermögensgerichtsstand gemäß § 23 Satz 1 Alt. 1 ZPO nur gegeben sei, wenn der Rechtsstreit einen über die Vermögensbelegenheit hinausgehenden Inlandsbezug aufweist. Ob der erforderliche Inlandsbezug allein durch einen inländischen Wohnsitz oder einen gewöhnlichen Aufenthalt des Klägers im Inland hergestellt wird, hatte der XI. Zivilsenat dabei offengelassen (BGH, Urt. v. 02.07.1991 - XI ZR 206/90 Rn. 31).

In seinem hier besprochenen Beschluss (Leitsatz und Rn. 16) folgt der III. Zivilsenat der – inzwischen als h.M. akzeptierten (vgl. Patzina in: MünchKomm ZPO, 4. Aufl., § 23 Rn. 15, m.w.N.), aber gleichwohl kritisierten (vgl. Roth in: Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 23 Rn. 3, 9 ff.; Musielak/Heinrich, ZPO, 9. Aufl., § 23 Rn. 3; s.a. BGH, Urt. v. 22.10.1996 - XI ZR 261/95 - NJW 1997, 324 Rn. 10) – Rechtsprechung. Auch zu der Frage, welche Anforderungen an einen „hinreichenden Inlandsbezug“ zu stellen sind, verweist der Senat auf die Entstehungsgeschichte, wonach mit der Norm ein Auffanggerichtsstand für klagende Inländer, und zwar ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit, geschaffen werden sollte und die Anwendung des § 23 ZPO von dem Gedanken des Inländerschutzes getragen werde (unter Hinweis auf RG, Urt. v. 28.03.1882 - III 241/82 - RGZ 6, 400, 403, 405). Während der XI. Zivilsenat daraus das ungeschriebene Merkmal des „hinreichenden Inlandsbezugs“ allgemein abgeleitet hatte, erkennt der III. Zivilsenat den inländischen Wohnsitz des Klägers als Ausdruck dieser Eingrenzung an und bestätigt damit zugleich seine frühere Senatsrechtsprechung, die – ausdrücklich ohne Auseinandersetzung mit einer allgemein restriktiven Anwendung der Vorschrift – bei Bestehen eines inländischen Wohnsitzes des Klägers § 23 ZPO angewendet hat (BGH, Urt. v. 24.11.1988 - III ZR 150/87 - NJW 1989, 1431 Rn. 28; im Ergebnis ebenso BGH, Urt. v. 22.10.1996 - XI ZR 261/95 - NJW 1997, 324 Rn. 11; BGH, Urt. v. 18.03.1997 - XI ZR 34/96 - NJW 1997, 2885 Rn. 21). Im vorliegenden Fall war – wie der Beschluss bemerkt – der Kläger zudem deutscher Staatsangehöriger, wobei die genaue Bedeutung dieses Umstands für die Anwendung des § 23 ZPO offenbleibt (vgl. dazu Patzina in: MünchKomm ZPO, § 23 Rn. 10, m.w.N.).

D. Auswirkungen für die Praxis
Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte gemäß § 23 Satz 1 Alt. 1 ZPO setzt voraus, dass eine Klage wegen eines vermögensrechtlichen Anspruchs erhoben wird, der Beklagte keinen (Wohn-)Sitz in Deutschland hat, Vermögen des Beklagten sich im Gerichtsbezirk befindet und – so die höchstrichterliche Rechtsprechung – der Rechtsstreit einen „hinreichenden Inlandsbezug“ aufweist. Die Anknüpfung desselben an einen inländischen Wohnsitz des Klägers ist praktikabel und dürfte den Anforderungen an die Rechtssicherheit und Rechtsklarheit genügen. Dahingehende Bedenken gegen das allgemeine ungeschriebene Merkmal eines „hinreichenden Inlandsbezugs“ (vgl. Roth in: Stein/Jonas, ZPO, § 23 Rn. 3, 9 ff.; Musielak/Heinrich, ZPO, § 23 Rn. 3) bleiben freilich unberührt.

Über sonstige Voraussetzungen des Vermögensgerichtsstands oder andere Einschränkungen des Anwendungsbereichs des § 23 ZPO hatte der BGH im Fall nicht zu befinden. So ist dieser insbesondere im Geltungsbereich der EuGVO begrenzt und scheidet § 23 ZPO für Klagen gegenüber Personen aus, die ihren bzw. einen (Wohn-)Sitz in einem Mitgliedstaat haben. In einer Reihe weiterer internationaler/bilateraler Abkommen wird die Anwendung des § 23 ZPO ausgeschlossen. Innerhalb des deutschen Rechts kann § 23 ZPO durch konkurrierende ausschließliche, allgemeine oder besondere Gerichtsstände verdrängt werden, wobei Einzelheiten streitig sind. Unabhängig davon dürfte der Beschluss des BGH im Hinblick auf den mitgeteilten, nicht lediglich einen Einzelfall betreffenden Sachverhalt mit Interesse zur Kenntnis genommen werden.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Zu dem vom Gericht zu berücksichtigenden Parteivorbringen hebt der Beschluss die höchstrichterlichen Grundsätze hervor, dass im Zweifel mit der Antragstellung in der mündlichen Verhandlung eine Bezugnahme der Parteien auf den Inhalt der zur Vorbereitung vorgelegten Schriftstücke verbunden ist (BGH, Urt. v. 12.03.2004 - V ZR 257/03 - BGHZ 158, 269 Rn. 23 f., m.w.N.) und mit dem zulässigen Rechtsmittel der Berufung grundsätzlich der gesamte aus den Akten ersichtliche Sachvortrag erster Instanz – auch das von dem Erstgericht für unerheblich gehaltene und im Tatbestand nicht ausdrücklich erwähnte Vorbringen – ohne weiteres in die Berufungsinstanz gelangt (BGH, Urt. v. 22.04.2010 - IX ZR 160/09 - NJW-RR 2010, 1286 Rn. 10, m.w.N.).