jurisPR-BGHZivilR 29/2007 Anm. 3

Folgen der Abweichung von der VOB/B
Anm. zu BGH, Urteil vom 10.05.2007 - VII ZR 226/05
Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

Leitsätze

1. Jede Abweichung von der VOB/B führt, auch wenn sie sich in einem Vertrag mit einem öffentlichen Auftraggeber findet, dazu, dass die VOB/B nicht als Ganzes vereinbart ist (im Anschluss an BGH, Urt. v. 22.01.2004 - VII ZR 419/02 - BGHZ 157, 346). Eine vertragliche Regelung, aufgrund derer der Auftraggeber eine Vertragserfüllungsbürgschaft in Form einer Bürgschaft auf erstes Anfordern verlangen kann, wich auch vor der Neufassung der VOB/B 2002 von § 17 Nr. 4 VOB/B ab.

2. Zur Kündigung eines Bauvertrags durch den Auftraggeber, wenn der Auftragnehmer die Arbeit nicht fristgemäß wieder aufnimmt, weil erhebliche Zweifel über die Anwendbarkeit öffentlich-rechtlicher Vorschriften bestehen, aufgrund derer ihm die Gefahr eines Bußgeldes droht.

A. Problemstellung
Häufig verwenden Auftraggeber Vertragsbedingungen (Besondere Vertragsbedingungen, Zusätzliche Vertragsbedingungen und Technische Vertragsbedingungen), die die Regelungen der VOB/B umfangreich ergänzen oder abändern. Im vorliegenden Fall sehen die Zusätzlichen Vertragsbedingungen des Auftraggebers vor, dass der Auftragnehmer dem Auftraggeber bei Stellung von Abschlagsrechnungen und Empfangnahme von Abschlagszahlungen eine auf erste Anforderung erfüllbare Bürgschaft vorzulegen hat. Der BGH hatte die Frage zu entscheiden, ob eine solche Regelung wirksam ist und gegebenenfalls dazu führt, dass die VOB nicht „als Ganzes“ vereinbart ist.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin erteilte dem Beklagten im Rahmen eines Werkvertrages den Auftrag zur Durchführung von Wärmedämmarbeiten an einer Heizzentrale einer Justizvollzugsanstalt. Es gelten die Vorschriften der VOB 1989 Teil B und Teil C. Die Parteien streiten über die Berechtigung von Nachtragsforderungen der Beklagten. Die Klägerin – öffentlicher Auftraggeber – beruft sich auf die Ausschlusswirkung des § 16 Nr. 3 VOB/B. Nachdem die Beklagte die Schlussrechnung nicht vorgelegt hatte, wurde sie von der Klägerin erstellt und der Beklagten unter Hinweis auf die Ausschlusswirkung des § 16 Nr. 3 Abs. 2 bis 4 VOB/B übermittelt. Die Beklagte erklärte den Vorbehalt zu dieser Abrechnung, versäumte aber innerhalb der Frist von 24 Werktagen, eine prüfbare Berechnung zur Begründung des Vorbehalts einzureichen.

Die Klägerin verlangt Ersatz von Fertigstellungsmehrkosten nach außerordentlicher Kündigung des Bauvertrages sowie die Erstattung der Kosten für die Erstellung der Schlussrechnung. Der beklagte Auftragnehmer begehrt in der Widerklage eine Restvergütung aus der Schlussrechnung. Das Landgericht hatte Klage und Widerklage abgewiesen. Das Berufungsgericht war im Wesentlichen zum gleichen Ergebnis gekommen.

Die Abweisung der Widerklage beruht auf der Ausschlusswirkung des § 16 Nr. 3 VOB/B, auf die sich die Auftraggeber – so die Vorinstanzen – zu Recht berufen können. Der Auftragnehmer habe versäumt, innerhalb der folgenden 24 Werktage nach Erklärung des Vorbehalts eine prüffähige Abrechnung vorzulegen (§ 16 Nr. 3 Abs. 5 VOB/B).

Das sieht der BGH in der Entscheidung vom 10.05.2007 anders. Auf den Einwand des § 16 Nr. 3 VOB/B könne sich der Auftraggeber nicht berufen. Denn die VOB/B ist nicht als Ganzes vereinbart. Die Klauselkontrolle des § 16 Nr. 3 VOB/B führt zur Unwirksamkeit dieser Regelung.

C. Kontext der Entscheidung
Jahrzehntelang war es in der Baupraxis üblich, in Bauverträgen durch Besondere und Zusätzliche Bedingungen von der VOB abweichende Regelungen in Bauwerksverträgen zu vereinbaren. Grundsätzlich müssen Vorschriften, die – wie die VOB – keine rechtsverbindlichen Regelungen, sondern zu vereinbarende Vertragsbedingungen darstellen, uneingeschränkt an den Vorschriften der §§ 307 ff. BGB gemessen werden. Die Klauselkontrolle ist jedoch stärker beschränkt, wenn die VOB/B insgesamt Vertragsgrundlage ist (§ 308 Nr. 5 b BGB).

Die frühere Rechtsprechung zu der Frage, ob die VOB noch als Ganzes vereinbart ist oder nicht, hatte den Grundsatz aufgestellt, es komme darauf an, ob durch die vertragliche Gestaltung ein Eingriff in den „Kerngehalt“ der VOB vorliegt oder nicht (BGH, Urt. v. 16.12.1982 - VII ZR 92/82 - NJW 1983, 816). Wenn ja, muss jede einzelne Klausel der VOB an den Vorschriften – damals des AGB-Gesetzes, später – der §§ 307 ff. BGB gemessen werden. War die Änderung der Regelungen nicht als Eingriff in den „Kerngehalt“ anzusehen, galt die Privilegierung mit der Folge, dass eine Überprüfung der einzelnen Klausel nicht notwendig war.

Was allerdings unter „Kerngehalt“ der VOB/B zu verstehen war, war seit jeher höchst unklar (vergleiche dazu Reinelt, Irrationales Recht, ZAP-Sonderheft für Egon Schneider 2002, S. 52 V).

Die Rechtsprechung zum „Kerngehalt“ hat der BGH durch die Entscheidung vom 22.01.2004 - VII ZR 419/02 - zu Recht aufgegeben. Jede vertragliche Abweichung von der VOB/B führt danach dazu, dass die VOB nicht als Ganzes vereinbart ist. Es kommt nicht darauf an, welches Gewicht der Eingriff hat. Bereits in der früheren Entscheidung ging es um die Frage, ob die Ausschlussklausel des § 16 Nr. 3 Abs. 2 VOB/B einer Inhaltskontrolle standhält oder nicht. Der VII. Zivilsenat hatte damals zutreffend erkannt, dass sich aus der früheren Rechtsprechung keine greifbaren Kriterien dafür ableiten ließen, wann eine von der VOB/B abweichende Regelung in den Kernbereich eingreift und wann nicht. Er hat damit eine uneingeschränkte Klauselkontrolle in Bezug auf § 16 Nr. 3 Abs. 2 VOB/B und die dort vorgesehene gravierende Ausschlusswirkung eröffnet.

Diese Rechtsprechung wird fortgeführt und verfestigt durch die hier besprochene Entscheidung des BGH vom 10.05.2007. Jede Abweichung von der VOB (auch dann, wenn sie in einem Vertrag mit einem öffentlichen Auftraggeber auftritt), führt dazu, dass die VOB/B eben nicht als Ganzes vereinbart ist. Die vertragliche Regelung, auf Grund derer der Auftraggeber eine Vertragserfüllungsbürgschaft in Form einer Bürgschaft auf erstes Anfordern verlangen kann, verstößt gegen die eindeutige Neuregelung der VOB 2006 in § 17 Nr. 4 VOB/B. Dort ist nunmehr ausdrücklich geregelt, dass der Auftraggeber als Sicherheit keine Bürgschaft fordern kann, die den Bürgen zur Zahlung auf erstes Anfordern verpflichtet.

Der BGH betont in seiner neuen Entscheidung, dass dieser Grundsatz auch vor der Neuregelung der VOB 2006 für die alte Fassung aus dem Jahr 2002 galt. Der Sinn des Sicherungssystems der VOB/B bestand auch nach den früheren Fassungen darin, dass die Sicherheitsleistung über die Bürgschaft dem Auftragnehmer Liquidität dauerhaft erhalten sollte. Diesem Ziel lief die Vereinbarung der Bürgschaft auf erstes Anfordern auch bereits früher zuwider.

Die Entscheidung liegt damit ganz auf der Linie der Entwicklung der bisherigen Rechtsprechung zu weiter gehenden Inhaltskontrollen bei jeder Abweichung von der VOB/B.

Dass die Ausschlusswirkung des § 16 Nr. 3 VOB/B einer isolierten Inhaltskontrolle, auch bei einem öffentlichen Auftraggeber, nicht standhält, hat der BGH in der neuen Entscheidung unter Bekräftigung seiner hierzu bereits früher entwickelten Auffassung bestätigt (BGH, Urt. v. 17.09.1987 - VII ZR 155/86 - BGHZ 101, 357; BGH, Urt. v. 19.03.1998 - VII ZR 116/97 - BGHZ 138, 176).

D. Auswirkungen für die Praxis
Die beratende Baurechtspraxis hat sich auf die Rechtsprechung des BGH zur Unwirksamkeit von Bürgschaften auf erstes Anfordern bereits weitgehend eingestellt. Die öffentlichen Auftraggeber werden sich dieser Entwicklung gleichfalls nicht entziehen können. Die Bürgschaft auf erstes Anfordern wird in der Baupraxis in Zukunft keine Rolle mehr spielen.

Angesichts der eindeutigen Rechtsprechung des BGH, die auch bei geringfügigen Abweichungen von der VOB/B eine uneingeschränkte und recht strenge Klauselkontrolle zulässt, werden raffiniert ausgetüftelte Vertragswerke mit zahlreichen Ergänzungen zur VOB/B in Zukunft vermutlich stärker entschlackt und vereinfacht werden. Der Klauselverwender erringt mit solchen von der VOB abweichenden Strukturen nur Pyrrhussiege.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Bemerkenswert an der Entscheidung ist weiterhin die Bestätigung der Rechtsprechung, dass eine unwirksame außerordentliche Kündigung i.S.d. § 8 Nr. 3 VOB/B im Zweifel rechtsfehlerfrei als freie Kündigung nach § 8 Nr. 1 VOB/B aufrechterhalten werden kann, wenn feststeht, dass der Kündigende das Vertragsverhältnis auf alle Fälle beenden wolle (vergleiche dazu Kapellmann/Messerschmidt, VOB/B, 2. Aufl., § 8 Rn. 17, m.w.N.).

Für die anwaltliche Beratungspraxis ist weiter von Bedeutung: Wie der BGH entschieden hat (BGH, Urt. v. 17.09.1998 - IX ZR 291/97 - NJW-RR 1999, 19), sollte zu einer außerordentlichen Kündigung nur geraten werden, wenn vorauszusehen ist, dass der Mandant keinen Schaden erleiden wird. Freilich stellt sich die Sichtweise in der Beratungspraxis zum Zeitpunkt der notwendigen Weichenstellung – Rat zur außerordentlichen Kündigung Ja oder Nein – häufig anders dar als bei der ex-post-Betrachtung des Richters, der den Kausalverlauf kennt. Angesichts der strengen Rechtsprechung zur Anwaltshaftung sollte zur außerordentlichen Kündigung jedenfalls nur nach sorgfaltiger Prüfung geraten werden.